Das Kind im Kleid

»ich habe mich bederuhicht« brüllt das Kind mich an.
Beruhigt hat sich hier niemand und bestimmt nicht das zerzauste Ding, das vor mir steht und kurz davor ist, mir seinen Puppenlöffel ins Herz zu rammen. Sich beruhigt haben bedeutet im allgemeinen, aus dem Kinderzimmer entlassen zu werden, das es für die Dauer seines zornigen Ausbruchs als Exil zugeteilt bekam. Sich beruhigt haben bedeutet im besonderen, in normaler Stimmlage und unter Verzicht auf den singulären Imperativ über Kleidungsfragen sprechen zu können. Denn Kleidungsfragen sind seit geraumer Zeit Existenzfragen für Dr. Schmotzen.
Die Doktorin trüge nämlich ausschließlich Kleider und Röcke, wenn sie das alleinige Entscheidungsrecht hätte. Und jeden Tag die gleiche Strumpfhose, immerzu das selbe verdreckte Paar. Nun haben wir uns mit Blick auf den Winter auf einen Hosentag pro Woche geeinigt. Einmal die Beine in eine Jeans zu stecken, ist zumutbar, finde ich.
Hat die letzten vierzehn Tage auch einigermaßen funktioniert. Bloß heute haben wir eine neue Dimension erreicht. Heute weigert sie sich nämlich, ihren Schlafanzug anzuziehen, weil sie auch nachts »schitte tleider« tragen möchte und da ist sie sich ihrer Sache sehr sicher.
Nach ein paar Runden tautologischem Wortgefecht fällt im Kind ein innerer Vorhang und das die Kurzverbannung einleitende Getöse beginnt. Und wenn ich in ihm nicht meine eigene Vierjährigkeit sehen könnte, zwar mit anderen Themen, Röcke und Kleider waren noch nie meine besten Freunde, aber mit genau dieser Wut und dem Willen zum Destruktiven, mit dem größtmöglichen Gefühl einer weltumfassenden Ungerechtigkeit, wüsste ich mit diesem Spektakel nichts anzufangen.

Schnippschnapp, Haare ab

In letzter Zeit habe ich beschlossen, meine Haare ganz lang wachsen zu lassen. Einmal in meinem Leben meterweise Haare haben, darauf müsste ich bestimmt nur bis zum frühen Sommer warten.
Am nächsten Tag machte ich einen Termin beim Barbier. Heute saß ich mit nassem Schopf bei einer Frisierdame im Stuhl, neben mir ondulierte Endfünfzigerinnen unter Haubenrobotern mit Kaffeetassen in den Händen, und bat sie um die Dienstleistung eines Kurzhaarschnitts, ich würde auch bezahlen. Sie betrachtet das Bildmaterial, schüttelt ihr Haupt und verweigert das Rennen. Wir einigten uns dann auf eine moderate Mittellänge und nun laufe ich kopfmäßig rum wie eine republikanische Präsidentengattin.

Ein Licht tragen

Seit das Atheistenkind einen evangelischen Kindergarten besucht, hat es einmal in der Woche in der Turnhalle moderierten Kontakt mit Gott. Und wenn es dann nach Hause kommt, singt es feierlich-ökumenische Kirchenkinderlieder, die es von ihm lernt.

Dreizehn

Heute habe ich gedacht.
Es ist der dreizehnte. Du bist an einem dreizehnten gestorben. Dreizehnte fühlen sich anders an. Außer heute, heute Morgen habe ich im Kindergarten gesehen, dass morgen der vierzehnte ist und alle Kinder in der Turnhalle am Frühstücksbuffet essen. Ich habe in der Liste für Eltern eingetragen, dass wir Tomaten und Gewürzgurken mitbringen. Ich habe nicht gedacht, morgen ist der vierzehnte, dann ist heute der dreizehnte, an einem dreizehnten bist Du gestorben. Ich habe gedacht, morgen ist der vierzehnte, Tomaten, Gewürzgurken.
Im Büro habe ich meinen Kalender geöffnet und gesehen, dass heute der dreizehnte ist und welche Aufgaben ich habe. Ich habe nicht gedacht, heute ist der dreizehnte, an einem dreizehnten bist du gestorben. Ich habe gedacht, heute ist der dreizehnte, ConAktiv, Routine, Mailchimp. Ich habe den dreizehn-Äquator heute oft überschritten und nicht an Dich gedacht. Das liegt vielleicht an einem Statuswechsel. Da hat sich was geändert.
Ich habe mein Butterbrot aus der Tasche geholt und Wasser in ein Glas geschüttet. Ich habe gedacht, jetzt bin ich gleich sitt und satt. Und dann habe ich an den einzigen Menschen auf der Welt gedacht, der das neunzehnhundertneunundneunizg eigens erfundene Wort für den undurstigen Zustand verwendet hat. Ich habe an Dich gedacht.

Ich habe im vergangenen Jahr immer an Dich gedacht als Lebender. Als wärest Du noch da und den kleinen Teil einer Sekunde später fällt mir dann ein, das stimmt nicht und ich denke an Deinen Tod und an alles, was da war.
Aber in letzter Zeit denke ich an Dich aus einer anderen Richtung. Ich weiß immer sofort, dass Du tot bist und dann denke ich an Dein Leben und unseres und alles, was da war. Und dieses neue Denken gefällt mir viel besser, auch wenn es bedeutet, dass Du schon ein ganzes Stück weggerückt bist.

Dr. Dyskalkulie

»Wenn Du fünf Schokobons hast und ein Vogel kommt und schnappt Dir eins weg, wie viele hast Du dann noch?«
»hmm, dann hab ich noch vier stütt, ne?«
»Richtig, und wenn Papa kommt und isst zwei von den vieren auf, was bleibt dann?«
»ja, das hat der schonmal demacht! neulich!«
»Wie viele haste denn dann noch?«
»noch zwei. darf der aber nicht!«
»Genau. Und dann liegt eins in der Sonne und verschmilzt mit dem Rasen, wie viele Schokobons hast Du dann?«
»ihh, einen. sind da ameisen dann drauf?«
»Ja, wahrscheinlich schon. Und wenn das alles Quatsch ist und Du wieder fünf Schokobons hast und ich geb Dir noch zwei dazu, was bekommst Du dann?«
»dann betomm ich bauchschmerzen.«

Morgens aufgewacht, gleich ne nette Kurznachricht vom LeGimpsi erhalten.

Dr. Schmotzens Malbuch

Zu ihrem Geburtstag hat das Kind auch dieses Jahr eine Heldentat der Kreativwerkstatt ihrer Tante bekommen: Die TopTen unserer Familienfotos als Malbuch! Ist das zu fassen? Da hat die Maltante alle Bilder abgezeichnet und malbuchtypische Flächen eingebaut, die dann vollgekritzelt werden können.
Jetzt malt Dr. Schmotzen ihren Eltern grüne Köpfe, Oma karierte Ohren und sich selbst alles in pink.
Kurze Chronik der letzten Geburtstagsbasteleien:
2010 gabs ein astreines Verwandtenmemory und
2011 einen selbstproduzierten abendfüllenden Kinofilm.
Danke, schönste Tante Justini!