Wählen

Wieder Wahlhelferin gewesen und damit Ehrenschulden bei der Landesregierung eingelöst, die mich schon im Juni geimpft hat, als es sich so anfühlte, als dauere das mit dem Impfangebot für alle noch unerreichbar lange. Ich weiß noch, dass ich ein schlechtes Gewissen und lange überlegt hatte, ob es in Ordnung ist, mich als gesunder, junger Mensch impfen zu lassen, obwohl meine Zeit noch nicht gekommen war. Und ich dadurch ja Vorteile für mich beanspruche, die eindeutig zum Nachteil der Personen sind, die vor mir auf der Warteliste stehen. Aber andererseits war ich im Juni an einem very dark place angekommen, was die Produktion und Akkumulation von Angst vor dieser Krankheit anbelangt. Ich habe die Zeit zwischen November und Juni als großen Kontrollverlust wahrgenommen: Einerseits hab ich mich selbst so gut wie möglich isoliert und ununterbrochen vernünftige Entscheidungen getroffen. Andererseits wusste ich, dass unsere Kinder in Kita, Schule und Straßenbahn jeden Tag unvermeidbar viele soziale Kontakte haben und wir auch als strengste Coronaeltern der Welt da nicht viel machen konnten. Nun ja, die Tatsache, dass 75 Prozent unseres Haushalts nun einen sehr guten Schutz haben, hat ein paar blockierte Hintertüren in meinem Kopf geöffnet und die Angst ist in den letzten Wochen sehr gut aus mir rausgeflossen. Jedenfalls Bundestagswahl.
Dabei lustige Vorkommnisse erlebt: Wirklich viele Personen hatten Schwierigkeiten beim Falten des Stimmzettels. Das sah am Ende dann so aus wie beim derzeitigen Wahlverlierer und weil wir gute Wahlhelfende waren und Artikel 38 des Grundgesetzes ehren, haben wir die dann zurück in ihre Kabine geschickt, damit sie nochmal neu falten konnten. Manche haben ihren Stimmzettel auch direkt vor uns komplett auseinandergefaltet, das hat dann immer zu reflexhaft schmerzvollem Aufstöhnen und Abschirmen der Augen mit beiden Händen unsererseits geführt. Wie so Vampire, die zur falschen Uhrzeit die Gardinen aufschieben. All the Drama, aber das war es Wert. Hab kein Kreuz erkannt, das Grundgesetz wurde nicht kompromittiert.
Ein Typ hat sich in der Wahlkabine einen Papercut zugezogen und stand dann mit komplett blutverschmiertem Stimmzettel vor uns. Haben dann überlegt, dass da jetzt schon sehr viel sichtbare DNA drauf gelandet ist und wir auch hier leider auf den Schutz des Wahlgeheimnisses bestehen müssen. Hat er dann eingesehen, den Stimmzettel zerrissen, Erstversorgung erhalten und neu gestimmt.
Eine Frau stand mit ihrem Personalausweis vor mir und meinte, dass ihr Kleinkind ihre Briefwahlunterlagen gegessen habe, ob sie jetzt in der Kabine wählen kann. Also bei Briefwahlunterlagen ist es so: Man kann die vor der Wahl anfordern. Dann bekommt man einen Wahlschein und einen Stimmzettel nach Hause geschickt und dann nimmt man halt per Briefwahl teil. Man kann aber auch am Wahltag in irgendein Wahllokal innerhalb des Wahlkreises laufen und dort dann wählen. Dazu muss man den Wahlschein vorzeigen, der wird dann einbehalten, den Stimmzettel zerreißen und in der Kabine auf einem neuen Stimmzettel die Kreuze machen. Logisch. Ohne diese Unterlagen gehts dann halt aber nicht. Und so wars bei der Frau leider auch.
Naja, ansonsten ist es ein eher ruhiger Tag in unserem Wahlraum gewesen. Irgendwie macht mir diese Arbeit Freude. Überwiegend angenehmen Leuten begegnen, aufpassen, das Wahlregister sauberhalten und am Ende alles zählen, protokollieren, melden und verräumen. Bald ist Landtagswahl.

90 minutes well spent (FCK AFD)

Heute habe ich etwas sehr ungewöhnliches gemacht: Es war spontan und neu. Das ist eine Kombi, die kommt in meinem Leben so gut wie nie vor.
Wir wohnen hier direkt neben einem Kirchplatz. Dazu gehört auch eine Kirche, sogar die älteste der Stadt. Und weil sich darin kunsthistorische Schätze befinden, wird sie innen bewacht von Ehrenamtlichen. Und wenn man die Kirche besucht und sie sich anschaut, bekommen die begleitenden Kinder am Ende immer Süßigkeiten angeboten. Wir sind sehr oft in der Kirche. Die kleine Tochter hat für eine ungetaufte Atheistin ein außergewöhnlich großes Interesse an religiösem Interior Design. Fun fact: Der Kirchplatz war vor einigen Jahrhunderten der Ort, an dem die Verstorbenen bestattet wurden. Man läuft also quasi unterm Kopfsteinpflaster direkt über christliche Skelette. Creeps.
Jedenfalls ist samstags immer Markt direkt neben unserer Haustür. Und wenn Wahlkampf ist, stehen dort oft auch ein paar Parteien mit ihren Ständen. Und heute zum ersten Mal in dieser aktuellen Wahlkampfsaison auch die AfD. Ich hab morgens also über Twitter erfahren, dass da so Faschos ihre Scheiße spreaden, glaube, das ist der korrekte wissenschaftliche Ausdruck, und weil ich die letzten Jahre dann immer so eine riesige destruktive Wut bekommen habe, ich als privilegierte Person, die sonst nicht viel direkt mit dieser Partei zu tun haben muss, außer sie steht halt mit ihrem häßlichen türkisen Tisch vor meiner Süßigkeitenkirche, dachte ich: Entweder du bist jetzt einfach den ganzen Tag lang wütend oder du gehst da jetzt hin und guckst, was du machen kannst.
Und dann bin ich dahin und hab geguckt, was ich machen kann. Da standen um den Stand verteilt schon Aktivist:innen herum und haben Flyer verteilt. Und dann bin ich zu einer Person hin und hab einfach gefragt, ob es helfen würde, wenn ich auch ein paar Flyer verteile. Ich war selbst ganz überrascht von dieser Idee, die mein Sprechapparat völlig ohne kognitiven Input formuliert hat, aber fand sie dann ganz gut. Und schon bekam ich einen Stapel Faltblätter überlassen und den Tipp, keine Diskussion mit Nazis zu beginnen. Ich hab mich dann auf die Suche nach einem strategisch günstigen Platz gemacht und auch direkt gefunden: Kleine Kreuzung, da wo Smoothie-Wagen, Apotheke, komische Eckkneipe und Bäckerei aufeinandertreffen. Da stand nämlich eine Frau von der AfD und neben ihr zwei Gegenaktivisten und dann für die nächsten 90 Minuten auch ich. Wir haben die Nazifrau nie allein gelassen.
Und dann hab ich einfach die Leute angesprochen, die an mir vorbeikamen und ihnen Informationsmaterial gegen die rechte Partei angeboten. Und nach mir hat die Nazifrau ihnen dann Informationsmaterial für die rechte Partei angeboten und dazu noch einen häßlichen türkisen Kugelschreiber. Oder andersrum, erst sie, dann ich. Das war eigentlich cooler, weil man der Nazifrau dann so angenehm ins Wort fallen konnte und weil wir zu dritt waren, konnte sie dann auch nichts machen. Und sehr sehr oft war es einfach so, dass die Leute der Nazifrau gegenüber sehr deutlich zum Ausdruck gebracht haben, was sie von antidemokratischen Scheißparteien halten und sich bei uns für die Präsenz bedankten und das war dann immer wie ein Eigentor des Gegners mit direktem Anschlusstreffer für einen selbst, um hier mal beim Schach zu bleiben.
Ich habe gemerkt: Sehr viele, die allerallermeisten, die heute an uns vorbeikamen, sind gegen die AfD. Auch die alten Opis, auch die älteren Konservativen. Und echt viele haben schon per Briefwahl gewählt.
Haben wir heute jemanden überzeugt, die AfD nicht zu wählen? Vermutlich nicht. Bezweifle, dass das mit einem kleinen Flyer, den man zwischen Brötchentüte und Einkaufskorb geklemmt bekommt, geht. Aber es hat richtig gut getan, neben einer Nazifrau zu stehen und ihr zu zeigen, dass sie kein Recht hat auf Nazipropaganda, dass sie nicht unwidersprochen bleibt.
Guter Start ins Wochenende, keine Wut weit und breit, will ich mir merken.