Wohnen, wo ich aufgewachsen bin

Aus Gründen sind wir vor ein paar Jahren aus der Stadt weg und in den Ort rein gezogen, in dem ich aufgewachsen bin.
Ich kann das nicht empfehlen. Als wäre es nicht schlimm genug, ständig Eltern von alten Schulfreunden zu begegnen, die einen anblicken, als sei man immer noch fünfzehn und von ihren Kindern erzählen, die überall wohnen, nur eben nicht im Ort, wo sie aufwuchsen. Nein, es sorgt bei mir auch regelmäßig für Augenblicke tiefen Entsetzens. Genau dann, wenn ich Typen treffe, die ich ganz früher, quasi sogar in prämenstrueller Zeit mal irgendwie gut bis besonders gut fand. Da es schon bemerkenswert viele dieser Momente schamvoller Irritation gab, muss ich ein sehr romantisches, schnell begeisterungsfähiges Mädchen gewesen sein.
Erst vor kurzem traf ich am Einkaufsladenkassenband so ein Exemplar, wobei, ich sah es eher, treffen beinhaltet ja irgendwie immer, dass man sich unterhält.
Ich sichtete ihn, mein Hirn sendete das übliche diffuse Signal »Gesicht bekannt, Wiedererkennungstendenz beim Gegenüber unwahrscheinlich, Empfehlung: zeitnah wegschauen, besser nicht grüßen, sonst Peinlichkeit und rote Wangen« und so tat ich wie gelernt, als streife mein Blick die anmutige Einkaufsladenkassenbandlandschaft und im Wegschauen nahm mein Körper die Bewegung auf und drehte sich solange in gleichmäßiger, unauffälliger Geschwindigkeit, bis der maximale Abwendungswinkel erreicht war und das Regal der Einwegrasierer mein komplettes Sichtfeld einnahmen. Während ich das tat, wurde mir sein verweilender Blick gewahr und ich erkannte, dass seine Synapsen einnehmend feuerten.
Wie alle übrigen ungegrüßten früheren Junggesellen dachte auch dieser ewige Einsliveradiohörer, denn so lässt er sich bestens beschreiben: Jemand, der sein Leben lang, auch mit vierzig, fünfzig, sechzig Jahren ein begeisterter Anhänger des Jugendradioprogramms der Westdeutschen Rundfunkanstalt sein wird, was ich für eine arrogante Schnepfe geworden bin.
Ich wünsche meinem fünfzehnjährigen Zustand diesen Blick von heute. Dann hätte ich mir damals meinen Annäherungsversuchsplan sparen können, ihn zu bitten, mir Armageddon auf Video zu überspielen. Irgendwie dachte ich, wenn der mir mit seinem Rekorder was aufnimmt, muss das ein Zeichen grundsätzlicher Sympathie sein. Ich hatte auch damals kein Talent für Gesamtstrategien, schrittweise Taumelmanöver liegen mir eher. Hat er erwartungsgemäß nicht gemacht, ich war ja nicht Andrea.
Heute begrüße ich, dass er mir den beschissenen Film nicht aufzeichnete und mich auch überdies nicht näher studierte.
Die paar Typen von früher, bei denen ein teilnahmsloser, schweifender Blick wahrlich unglaubwürdig wäre, grüße ich auch heute noch recht gern. Natürlich wohnen sie nicht mehr hier.

So Zeiten, in denen die Rollläden bis zum allerletzten Augenblick oben bleiben. Und selbst dann kommt es mir wie die reine Tageslichtverschwendung vor.

Verkaufstricks

Seit das Kind krankheitsbegründet vor ein paar Wochen einige Nächte in unserer Mitte schlief, macht sich nun im wieder ausgegliederten Zustand abends mitunter eine leichte Nervenschwäche bei ihm bemerkbar.
Es liegt dann im eigenen Bett, die Rituale sind abgearbeitet, Papa aufs fürchterlichste verabschiedet, nämlich zunächst leise anschleichend und dann größtmöglich laut und bedrohlich die Bürotür aufreißend, um »duute nacht, papaa!« brüllend die letzten Worte des Tages an ihn zu richten. Dann marschieren wir ins töchterliche Zimmer, sie sucht ein Buch aus, sie sucht ein Stofftier aus, sie legt sich ins Bett, sie hört der Geschichte zu, sie erklärt die Spielregeln für die Kussabfolge, »otee, vier tüsse, wir zählen mit, zuerst du, dann ich, dann wieder du und dann wir beide zusammen« und hält sich dann nicht dran, sie sagt, »dute nacht, mamaa, tür anlassen, licht auflassen«, wir lachen beide verschwörerisch, ich sage, »ja, gernee« und dann gehe ich und sie schläft ein. Sobald sie atmet wie es ein alter Seefahrer in unser aller Vorstellung macht, schleiche ich in ihr Zimmer und schalte das kleine Leselicht über ihrem Bett aus, das Nachtlicht im Flur bleibt an.
Seit das Schlafpraktikum in unserem Bett stattfand, schiebt sich immer häufiger eine weinerliche Episode nach der Quattrokussverabschiedung ein. Sie nennt mich Mami, woher kennt sie dieses Wort, es gehört zu meiner Top fünf der meistgehassten Lautabfolgen. »mami, bleib bei mir, mami, ich will bei dir sein, mami, mama«, sie sitzt dann aufrecht im Bett und steigert sich langsam rein.
Nun ist das Kind viereinhalb Jahre alt, durchaus fähig, allein zu pennen und ein sehr gewohnheitsliebender Mensch. Wenn ich zum Beispiel nachgäbe und bei ihr bliebe bis sie einschliefe, müsste ich das fortan bis an ihr Lebensende so halten. Standards bilden sich sehr rasch bei Dr. Schmotzen. Weil ich aber nicht möchte, dass meine physische Präsenz eine abhängige Variable in ihrem lebenslangen Einschlafprozess wird, gehe ich nicht auf ihr Anliegen ein. Was nie klappt, ich aber trotzdem jedes Mal versuche, ist, in ihrem hundertsechs Zentimeter langen Körper einen Rest Vernunft zu finden und ihn zu adressieren. Das ist Teil meines ethischen Protokolls und wird bis zu vier Mal innerhalb fünfzehn Minuten vergeblich probiert.
Dann kommt mein schmieriger Verkäufertrick.
Das Kind verweilt in diesem Zustand in einer sehr müden Phase, es möchte unbedingt schlafen und findet keinen Frieden. Es steckt schon zu tief in der akuten, konkreten Verzweiflung, die beiden haben sich ineinander festgebissen. Ich muss Dr. Schmotzen da raushelfen, ohne ihrem Antrag stattzugeben. Ich erfinde also eine Maßnahme, die ihr das Gefühl gibt, sie kann mir nahe sein, auch wenn ich nicht bei ihr bin. Und weil bei ihr nur noch die Emotionen regieren, braucht es die richtige Performance, eine vertrieblich angelegte Vermittlung, damit die kleinen aufgeregten, fix und fertigen Teilchen in ihr endlich Ruhe geben und Schlaf und Erholung finden.
Ich sage also mit ernstester, feierlich-offiziellster Masterplan-Stimme, »okay, Dr. Schmotzen, okay, so können wirs machen, Achtung. Hörst du zu?« Das Kind verstummt sekündlich und empfängt gespannt die rettende Lösung, »na gut, ich gehe jetzt duschen und ausnahmsweise, nur heute, können wir die Tür zum Badezimmer auflassen. Aber dann muss das jetzt hier auch tipptopp klappen mit der Schlaferei, copy that?« Und sie nickt als wäre sie Teil etwas ganz Großem und legt sich hin und schließt die Augen. Ein paar Minuten später kann ich das Leselicht ausmachen.
Ist natürlich Quatsch mit der exklusiv geöffneten Badezimmertür, ein Nonsensangebot, die steht andauernd auf. Aber dem Kind ist es eine Leiter raus aus der Grütze, weil ich sie präsentiere wie Schweizer Schokolade.
Manchmal bin ich eine Verkäuferin. Dann nutze ich Sprache und Sprechen, um das Kind zu lenken. Das klappt nur, weil es zu jung ist, um kritischer Konsument zu sein. Ein wenig erstaunt bin ich doch, dass das Kind noch so sanft und effektiv verschaukelt werden kann.
Aufgeklärt und sprachwirkungsmächtig wird die Tochter schon werden. Am ehesten ausgeschlafen.

Ohne einen

Heute vor zwei Jahren haben wir fünf aufgehört. Einer ist gegangen, so schnell, da kamen wir nicht hinterher. Da gab es nichts mehr zu begleiten oder verabschieden, einer war einfach weg.
Wir bleiben. Am Anfang blieben wir jeden Tag aufs neue. Wenn ich morgens aufwachte und der Vorhang fiel, kam das Überreden, zu bleiben. Weitermachen ohne einen ist gar nicht so einfach, wenn die Alternative heißt, bis ans Ende der Tage auf einem Stuhl zu sitzen und sich zu weigern.
Wenn einer geht, nimmt er mehr mit als sich selbst. Familie ist mehr als die Summe ihrer Teile. Kann es einen schöneren Gedanken geben, als den, dass das letzte, was Du mir gesagt hast, eine Wegbeschreibung war?
Ich höre bald auf zu nichtakzeptieren, wie die Dinge damals waren. Wie kleine Rädchen sich in einander verhakten und Fahrt aufnahmen. Es nutzt ja nichts, es lindert ja nichts. Ich lasse den dreizehnten Juni frei. Es soll wieder ein Tag werden, an dem alles geschehen kann, sogar Kinder können geboren werden.
Manchmal denke ich an die Worte, die nicht durch meine Stimmritzen geflossen sind. Aber nur weil sie es nicht taten, bedeutet es ja nicht, dass Du sie nicht gehört hast.
Es lohnt sich, häufiger mal auf Dachgiebel zu schauen. Immer mal wieder wartet dort jemand.

Kolumnenschreiben

Hier wurde sehr anschaulich vertextet, wie Printkolumnen entstehen. Ich habe mittlerweile zwei Hände voll von diesen kurzen, pointierten Texten geschrieben und das Ergebnis ist ok. Allein der Weg dahin läuft immer gleich und lässt sich einfach nicht optimieren: Viel zu lange Texte, die ich im Textverarbeitungsprogramm vorschreibe, sprengen das Layout. Ich versuche dann, sie ohne Folgeschäden zu kürzen und wenn ich sie bis auf ihre Essenz ausgezogen habe und sie immer noch nicht auf die Seite passen, fasse ich das heilige Layout an. Ich ziehe die Kästen größer, stehle der Subhead ein, zwei Zeilen, befreunde mich mit einer Ein-Wort-Überschrift. Irgendwann sieht alles ein wenig bleiwüstig aus, die Layoutvorlage beim Kunden wurde bislang trotzdem immer überlebt.
Sofort ins Layout zu schreiben, klappt nicht. Erstens entstehen die Texte in fast allen Fällen zu Hause, abends, dort habe ich nicht die passende Software. Nächstens setzt dieses nackte, erwartende Layout voll mit lorem ipsum mich unter Druck. Ständig sagt es mir: Schau, was Du alles noch mit Sinn füllen musst. Nie: Schau, was Du schon mit Sinn gefüllt hast. Ein ganz und gar weißer, formfreier Bildschirm, wie ihn zum Beispiel iAWriter mir beschert, wirkt auf mich produktiv. Darum wirds wohl beim Prozess bleiben, erst schreiben, dann kürzen.

Eule

Dr. Schmotzen hat ihr erstes eigenes Meme erfunden und feiert es wie bekloppt. Es ist der Satz »Hilfe, eine Eule!«
Sven Nordqvist hat das Buch »Findus und der Hahn im Korb« geschrieben, in dem Pettersson einen Hahn vorm Schlachten rettet, mit nach Hause nimmt und ihn bei seinen Hühnern wohnen lässt. Als er den Transportkarton öffnet und das Geflügel zum Vorschein kommt, schreit Findus entsetzt »Hilfe, eine Eule!«. Das Kind findet diese Stelle immens belachbar. Seither rezitiert sie sie mit der Stimme eines Katers mehrmals pro kleinster Zeiteinheit und hat dabei den Kohärenzbruch als komisches Moment entdeckt:
ich: »Hier, Deine Suppe«, sie: »hilfe, eine eule!«
ich: »Bringst Du bitte eine Flasche Wasser mit?«, sie aus der Ferne: »hilfe, eine eule!«
ich: »Guck mal, da vorn läuft ein Pferd übers Feld«, sie: »hilfe, eine eule!«
ich: »Finger weg, das ist heiß!«, sie: »hilfe, eine eule!«
ich: »Nee, heute gibts keine Schokolade«, sie: »hilfe, eine eule!«
ich: »Komm, ab ins Bett!«, sie: »hilfe, eine eule!«
Manchmal, wenn ich mit ihr schimpfe und ganz nah an ihr Gesicht komme, sie in meine Augen blickend: »hilfe, eine eule!«
Monsieur LeGimpsi liebt Unsinn jeglicher Art und ist Teil der Eulenbewegung geworden. Wenn ich sonntags aus dem Bett gekrochen komme, meine Brille noch ein wenig schief sitzt und ich nur in brummenden Sprechakten kommuniziere, beide: »hilfe, eine eule!«

Erster sein, dableiben

Es gibt Menschen, bei denen leuchtet mir sofort ein, dass die Molekülanordnung ihrer eigenen spermatischen Urknallkeimzelle im Wettrennen um Alles oder Nichts Alles bekommen hat und sich damals kurz vorm Verschmelzungsmoment gegen ihre Millionen Bruder- und Schwesterspermien durchgesetzt und es bis in die Eizelle geschafft hat.
Die sind so stark und selbstverständlich vorne dabei und lachen auf eine gesunde Weise am lautesten über ihre eigenen Witze und sind innen und außen robust. Da ist mir irgendwie klar, ihr samenzellulärer Anteil damals als es drauf ankam, muss ein Gewinnertyp gewesen sein.
Ich zum Beispiel verstehe einfach nicht, dass das Spermium, aus dem ich geworden bin, als erstes am Ei war und dann auch noch entschlossen genug, sich da reinzubohren. Ich bin vergrübelt, durchsetzungsschwach, gemütlich bis zuweilen antriebslos. Würde mir jemand zwei Stunden mehr Zeit pro Tag schenken, ich würde sie gegen Schlaf eintauschen. Vor jedem Volleyballtraining überlege ich, ob ich aus dem Sportverein austreten soll, wegen der ganzen körperlichen Anstrengung. Irgendwie verkorkst also. Was müssen meine Konkurrenzkeimzellen für phlegmatische Zeitgenossen gewesen sein, dass sie nicht mal mich überholt haben.
Es ist Samstagmorgen, halb sieben. Auf dem Spargelfeld feiert einer eine laute Party mit Schützenfestmusik. Wir haben Monsieur LeGimpsi schon früh zum Flughafen gefahren. Er ist jetzt bei jemandem, der damals mit zwölf Zentimetern Vorsprung an der Eizelle war und der in nächster Zeit diese ganze natürliche Stärke und Standfestigkeit, die ihm gehört, brauchen wird. Dr. Schmotzen und ich backen einen Kuchen, reden über Musik und später machen wir eine Mittagspause.