Heute ist September. September ist der unvorstellbar abstrakte Monat der letzten zwei Jahre. Die letzten zwei Jahre war Elternzeit, jetzt ist September und würde ich an Freitagen arbeiten, wäre heute mein erster Tag im Büro. An Freitagen arbeite ich aber nicht und so ist er erst am Montag.
Am Montag passiert viel. Ich wohne jetzt woanders als damals, vor den zwei Jahren Elternzeit. Früher bin ich mit dem Auto zur Arbeit gefahren. Jetzt werde ich mit der Straßenbahn und der Regionalbahn fahren. Ich habe darauf überhaupt keine Lust, weil bestimmt ständig was schiefgeht und es regnet und ich den Schirm halte und gleichzeitig Spartacus‘ Buggy schiebe und weil ich vor und zwischen und nach den Bahnfahrten zu diversen Bahnstationen hinlaufen muss. Und wenn ich aus dem Büro komme, gehe ich schnell zur Kita und hole das Kind und muss dann weiter zum Bahnhof und mit der Regionalbahn rüber in die andere Stadt und vom Bahnhof dort zur Haltestelle laufen und von dort in meinen Stadtteil fahren und dann nach Hause laufen und wenn alles klappt, wenn nichts schiefgeht, kommen Dr. Schmotzen und ich fast gleichzeitig an, und wenn doch, ist sie vor mir zu Hause und ich werde mich vermutlich ziemlich gestresst fühlen, weil das nicht dem Plan entspricht. Und ich werde mich grundsätzlich, unabhängig, ob bei mir was schiefgeht oder nicht, auch sorgen, ob dieses Kind den Schulweg gut allein schaffen wird, ob es an den drei Ampeln auch tatsächlich auf Abbieger achtet, auf dem Zebrastreifen in alle Richtungen schaut und auf der Verkehrsinsel stehenbleibt. Ob es die Einfahrten und Ausfahrten im Blick hat und die Fahrradspur. Und falls sie alles im Griff hat, ob nicht irgendein Irrer irgendeinen dummen Fehler macht, der in Dr. Schmotzens Rechnung nicht auftaucht und auf den sie nicht eingestellt ist. Ich weiß noch genau, wie unmöglich damals vor dem ersten Schultag die Vorstellung schien, dass Dr. Schmotzen allein in einen Schulbus steigt und davonfährt. Ich stand an der Haltestelle und konnte meinen Augen nicht trauen. Das Kind stieg ein und fuhr davon. Ich hatte es gesehen, es war geschehen und mittags stieg es am gleichen Punkt sogar wieder aus. Ab dann war es völlig normal. Vermutlich wird es diesmal wieder so sein, völlig normal.
Und Spartacus wird in die Kita gehen. Wir haben jetzt drei Wochen zusammen geübt und die Erfolge sind spärlich. Das wird nicht ohne Tränen laufen. Gestern am letzten Tag der Eingewöhnung haben wir es zum ersten Mal darauf ankommen lassen und die Tür geschlossen. Sie konnte dann nicht mehr zu mir. Ich saß im Vorraum und habe ihre Wut gehört. Sie war auch verzweifelt, aber vor allem wütend. So läuft das nicht, dachte ich, jetzt steigert sie sich voll rein und dann ist sie auf Monate blockiert, die wird ab jetzt immer direkt dicht machen, sobald wir uns der Kita nähern. Nach ein paar Minuten wurde sie still. Die Erzieherin kam zu mir und sagte, Spartacus habe die größeren Kinder einzeln zur Tür gezogen und ihnen befohlen, sie zu öffnen. Aber jetzt sei es wieder gut, jetzt würde sie spielen und sei zufrieden und wenn die emotionalen Ausbrüche, die in nächster Zeit ja nunmal einfach zu erwarten sind, ungefähr in dieser Art blieben, dann sei das nichts, womit sie nicht klarkäme. Für mich war es nicht leicht, Spartacus so toben zu hören. Ich hätte einfach nur die Tür öffnen müssen und der Zustand in ihr wäre vorbei gewesen. Am Montag sitze ich nicht nebenan. Da ist Spartacus tatsächlich allein, da kann ich ihr nicht raushelfen. Das muss die Erzieherin schaffen. Für sie war das bl0ß ein Ausraster eines Kindes, das sich auf die neue Situation einstellt. Einer von vielen hundert großen und kleinen, die sie bislang begleitet hat. Seitdem ich das gedacht habe, kann ich die nächsten Wochen leichter auf mich zukommen lassen. Ich mag die Erzieherin und vertraue ihr, dass sie und Spartacus das zusammen schaffen.
Montag. Mein Wecker wird um kurz vor sechs klingeln. Eigentlich ist das der schlimmste Gedanke von allen.