In Jade

Huch, ein Strand.

Die Kinder und ich waren ein paar Tage an der See und weil das ja nie vorkommt, haben wir uns darauf geeinigt, die ganze Veranstaltung unbedingt Urlaub zu nennen und als solchen zu betrachten. Ehrfürchtig also. Monsieur LeGimpsi musste arbeiten und so war das eine rein weibliche Angelegenheit. Das fanden wir alle schade und aufregend gleichermaßen, denn so war das Besondere ja noch besonderer.
Montag gings los. Ziemlich spontan haben wir eine freie Unterkunft in Jade erwischt. In einem alten Rathaus war unterm Dach noch Platz für uns. Was für ein Glück wir hatten, was für ein schöner Raum. Ich habe mehr Fotos vom Fußboden gemacht, als vom Strand, aber das ist allein mein Problem. Die Kinder haben den Holzdielen keine weitere Beachtung geschenkt. 

Abends Hasen füttern und Apfel essen.

Dafür aber dem Hasen. Den gab es dort nämlich auch und er hat für einige von uns eine große Rolle gespielt. Das kleine Kind entwickelte nach dem ersten Kontakt mit dem Watt („Ihh! Ganz ekelig! Alles pitschenass hier! Alles vollgekleckert!“) sofort eine große Abneigung gegen sämtliche Ausflüge, gegen alles Unbekannte des Nordens. Es litt fortan unter stärkeren Anpassungsstörungen, saß im Auto und wollte nicht aussteigen, wollte zum Hasen. Saß im Strandkorb und wollte nicht spielen, nicht lesen, nicht essen, wollte nur zum Hasen. Saß im Freizeitpark und wollte nicht Tiere gucken, nicht Marienkäferkarussell fahren, nicht in die Eisenbahn, wollte nur zum Hasen. Saß im Freibad, wollte nicht die Badebuchse anziehen, nicht ins Wasser, nicht auf die Liege, wollte nur zum Hasen. Eigentlich wollte es die ganzen Tage über immer nur beim Hasen sein, den es „mein armes Kind“ nannte, dem es Löwenzahn anreichte.

Während das große Kind seit mehreren Stunden nicht länger als für ein paar Atemzüge über der Wasseroberfläche gesichtet wurde, hatte das kleine Kind am Ende des Tages immerhin einen Zeh befeuchtet.

Dass wir Ausflüge in den Tierpark und ins Freibad gemacht haben, war nicht geplant. Eigentlich dachte ich, wir fahren jeden Tag nach Dangast und verbringen all unsere Zeit im Strandkorb. So, wie Urlaub halt ursprünglich auch mal erfunden wurde. Aber dann stiegen wir am Morgen des ersten Tages übern Deich und schauten auf ein riesiges Feld voller Matsch. „Ekelig!“, sagte das kleine Kind. „Wann kommt denn das Meer zurück“, fragte das große Kind. Und da wurde es dann lustig. Wir hatten nämlich überhaupt nicht nachgeschaut, wie sich die Herrschaften Ebbe und Flut die kommenden Tage ihre Googlekalender untereinander aufgeteilt hatten und naja, Ebbe hatte sich für die Schichten tagsüber eingetragen und Flut dann eher so nachts. Hm. Sollten wir also den ganzen Urlaub über im Grenzgebiet zu sehr viel Schmodder verbringen. „I don’t think so“, sprach das große Kind und „this is fucked up“, das kleine. Und so brauchten wir ein richtiges Programm.

All day every day.

Ein fester Tagespunkt waren auf jeden Fall Pommes. Frittierte gesalzene Speisen helfen immer und gehören zum Kindergeburtstag dazu, denn dort war ich nach der Verbannung aus dem easygoing Strandkorbparadies irgendwie gelandet.

Meins! Naja, das kleine Kind hat auch reingebissen.

Es waren schöne Tage. Anstrengender, als ich dachte. Das kleine Kind mit seiner Spaßverweigerung und Hasenfixiertheit, das große Kind mit Spaßfixiertheit und Hasenverweigerung und ich immer um Ausgleich bemüht dazwischen. Das große Kind hat neue Freiräume bekommen. Eigentlich hat es sie sich genommen und weil ich das kleine Kind und eine Ikeatasche voller Tagesproviant nicht ständig durch die Gegend tragen wollte, habe ich sie ihm gegeben. Am Strand machte es einen Spaziergang allein, im Freizeitpark flitzte es in dem Areal zwischen Teppichrutsche und Orcakarussell selbstständig hin und her und im Freibad sah ich es stundenlang nicht, weil ich mit dem kleinen Kind draußen auf einer Decke saß, während das große Kind drinnen mit offenen Augen tauchte und die Riesenrutsche runtersauste.

Als das kleine Kind im Schlund eines Haies von einer Wespe gestochen wurde. Nee, nix passiert.

Doch, ich glaube, ich möchte das jetzt jedes Jahr machen. Nur ich und die Kinder und sehr viel Pommes.

Am Samstag und am Sonntag in der Früh

Abends schon verabreden sie sich für gleich nach dem Aufwachen. „Bauen wir eine Höhle?“, fragt Dr. Schmotzen. „Höhle bauen“, ist die Antwort.
Ich krieg das gar nicht so genau mit, wann Spartacus sich morgens aus dem Bett schleicht. Mittlerweile versucht sie schon gar nicht mehr, mich zum Aufstehen zu bewegen. Sie weiß, das wird eh nichts.

Seit ich denken kann, ist der Morgen für mich die allerallerschlimmste Tageszeit, die je erfunden wurde. Weltweit. Seit 33 Jahren kriege ich morgens nicht die Kurve. Struggs to func is what it is. Naja. Die Töchter wachsen nun halt mit diesem zu bestimmten Uhrzeiten merkwürdig verballerten Elternteil auf, kennen es nicht anders und haben sich damit abgefunden. Wie so kleine Wüstenbewohner, die es in kargen Landschaften zu einigem Erfindungsreichtum gebracht haben, nutzen sie den Dämmerzustand der Mutter und verwandeln den Flur mit allen zur Verfügung stehenden Textilmitteln in eine riesige Deckenlandschaft. Höhle bauen. Da lesen sie dann und spielen mehrmonatige Floßfahrt. Ihre Erzählungen schwappen rüber zu mir. Kleine schallgeschobene Wortfetzen transportieren diffusen Sinn durch meine Gehörgänge direkt ins Traumzentrum und vermischen sich mit meinem eigenen Material zu rasanten Kamerafahrten. Ehrlich, die Träume kurz vorm Aufstehen, wenn der Verstand die Brücke schon wieder übernommen hat und es zu Störfeuern zwischen den Bewusstseinsstufen kommt, sind die besten.

Irgendwann während den mehrmonatigen Floßexpeditionen bricht der Lagerkoller aus und dann wird die Mauslampe an die Krokodile verfüttert und darüber gab es im Vorfeld aber keinen Konsens und darum ist das Geschrei dann sehr konkret und mein Traum augenblicklich vorbei und ich beginne den Tag mit der Stärkung meiner Wadenmuskulatur, wenn ich über mehrere Meter weichbodenmattendicken Bodenbelag stolpere. Dann Kaffee.

Sie und ich, die Bahn und der Zug

In den ersten sechs Monaten unserer gemeinsamen Pendelei, war sie immer eher still und beobachtend in der Bahn und im Zug. Seit ein paar Wochen fühlt sie sich dort richtig wohl. Ich glaube, sie hat diesen Teil des öffentlichen Raumes als ihr Privatzimmer mit anderen Menschen drin eingeordnet. Viele von ihnen kennt sie mittlerweile. Immer dieselben, die morgens mit uns auf den letzten Drücker in die Bahn springen, immer dieselben, die auf dem Weg in die andere Stadt bei uns im Fahrradabteil sitzen. Immer dieselbe Routine aus Geruckel, Deckel runterschrauben von der Flasche, Wasser trinken, Deckel wieder draufdrömeln, dabei hakts, neu ansetzen, rein in den Tunnel, Haltewunschtaste drücken, Fahrstuhl fahren, an den orthodoxen Christenmenschen mit ihren Plakaten vorbei, Fahrstuhl fahren, Kaffee trinken, Buch vorlesen, Tauben füttern, manchmal Glück haben und mit einem Freund weiterreisen, ICE aus Berlin anschauen, Geräusche nachmachen, rein in den Zug, kurzes Handgemenge um einen Sitzplatz, gewinnen oder verlieren, bei Erfolg aus dem Buggy aussteigen, Monatskarte zeigen, dabei je nach Gemüt des Schaffners Spielfahrkarte ergattern, Buch vorlesen, Deckel runterschrauben von der Flasche, Wasser trinken, Deckel wieder draufdrömeln, dabei hakts, neu ansetzen, rein in den Buggy, aussteigen, Fahrstuhl fahren, durch den langen Tunnel laufen, den Mond im Blick behalten, vom vielleicht mitgereisten Freund verabschieden bis er nicht mehr zu sehen ist, an der Ampel warten und schauen, ob schon jemand vor der Kita steht, rein in die Kita, Lage checken, spielen, spielen, spielen. Und mittags denselben Weg wieder zurück.

Nicht mehr lang, dann sind die zwei Stunden Hin- und Hergondelei am Tag vorbei. Dann reichen ein paar Schritte aus der Haustür, um in der Kita zu sein. Da freue ich mich für sie, dass sie sich so lange Anfahrten sparen kann. Und ich freue mich für mich, dass ich Zeit allein habe. Vorsorglich habe ich in einem günstigen Moment schon mal Monsieur LeGimpsis alte Kopfhörer in meinen Besitz gebracht. Aber vermissen werde ich sie schon. Langweilig ist mir nie mit ihr. Sie ist eine außergewöhnlich gute Reisegefährtin, würde ich sagen.