Bewahre The Wire

Die ersten Wochen dieses Jahres habe ich viele Abende damit verbracht, neben Monsieur LeGimpsi im Bett zu liegen und nach Baltimore zu schauen.
Im Grunde meines Wesens bin ich ein protestantischer Beamter kurz vor der Pension. Es fällt mir schwer, mich auf neue, genussorientierte Dinge einzulassen. Dr. Schmotzen hört eine Geschichte von Benjamin Blümchen, in der er im Krankenhaus auf der Kinderstation liegt und alle Patienten dort trübselig rumgesunden. Benjamin Blümchen führt ein paar Vergnügungsmaßnahmen durch, die wie gewöhnlich ihm eine Bühne bieten und alle Menschen glücklich machen. Nur die Oberschwester steht empört daneben und sagt andauernd: »Aber das geht doch nicht, sowas war früher nie da!« So ist mein Leben, ich bin ein Bewahrer.
Dann aber weiß ich, dass der Monsieur ein geschicktes Händchen bei der Serienwahl hat, er genießt auf diesem Feld eine hohe Reputation. Six Feet Under, Sopranos, Breaking Bad und ein paar andere zumindest nette Geschichten fügte er mir zu und sagte auch diesmal, The Wire ist gut, ich glaubte und fing an zu schauen. Normalerweise dauert es einige Folgen, bis ich akzeptiere und mich zurecht finde. Ersteres ging hier jedoch erstaunlich schnell, letzteres brauchte bis zur finalen Episode. Solch ein komplexes Material kannste Dir gar nicht vorstellen! Zum Rand voll mit unzählbar vielen Charakteren, mit Intratextualitäten, Organisationen, sozialen Milieus, dem Plural von Mikrokosmos, multilateralen Interessenskonflikten, Gefangenendilemmata. Am Ende landet man bei einer literarisiert veranschaulichten Systemtheorie. Und wäre das nicht schon ein unfassbar aufwändiges Unterfangen, ist die Umsetzung der Literarisierung von Meisterhand gemacht. Da hat jemand sehr gut beobachtet. Er schenkt nicht, lässt nicht davonkommen, treibt voran, ohne zu brechen, verzichtet darauf, zu emotionalisieren und irgendwas irgendwohin einzuordnen.
Eine Figur, die in ihrer Komplexität möglicherweise ein wenig besonderer ist als andere, wird am Ende der letzten Staffel von einem Zwölfjährigen erschossen. Einfach so, fast im Vorbeigehen. Aktion, Reaktion. So ist das im Leben, Menschen sterben. Wenn sie niemanden habe, der trauern könnte, wird nicht um sie geweint.
Das waren anstrengende Abende vor dem Fernsehgerät, nicht nur wegen der unterschiedlichen Sprachcodes (In der Originalversion schauen, unbedingt!). In den bürokratisch-politischen Bereichen sind mir manchmal ganze Handlungsstränge verschlossen geblieben. Dafür kam ich am Hafen, in der Schule und bei der Tageszeitung gut klar. Am besten aber auf der Straße. Wenn ich mal in Baltimore unterkommen sollte, dann auf jeden Fall in der West Side. Most def!
Jetzt bin ich aber vorerst satt und nicht aufnahmebereit. Vielleicht schaue ich The Wire bald nochmal und lese in der Wikipedia dazu. Vielleicht promoviere ich zu der Serie, vielleicht heirate ich den Drehbuchschriftsteller. Da gibts noch viel zu entdecken.
Der Moniseur hat auf der Warteliste schon Treme und Homeland stehen, aber damit lasse ich mir noch Zeit. Ich bin ein Bewahrer.

 

Paula

Einschlafen dürfen, wenn man müde ist,
Und eine Last fallen lassen dürfen,
Die man lange getragen hat,
Das ist eine köstliche,
Eine wunderbare Sache.

 

Da hat der alte Hesse schon recht, nicht? Du warst doch müde? Du hast doch getragen und geschlagen und befeuert nur noch um des Tragens, Schlagens und Befeuerns willen, oder? Eine Riesenmaschine ohne Schaltzentrum. War da noch mehr als das, war da noch Deins? Vielleicht Du?

Ich sitze, wo Du gegessen hast. Koche, wo Du gekocht hast. Ich wasche mich, wo Du Dich gewaschen hast. Mein schlafender Kopf liegt in Deinem Wandschrank, dort, wo das Porzellanpferd stand. Wo Dein Kreuz hing, ist jetzt pink. Meine Bilder über Deinen. Neben der Tasse liegt meine Hand ganz ruhig. Deine Finger klopfen in meinem Kopf nacheinander gegen den Becher. TACKTACKTACKTACKTACKTACKTACKTACKtackTACK. Eine Vierjährige spielt mit zu großen Schuhen, die stehen im Flur an der Wand, das ist geblieben. Meine Nähmaschine frisst Strom, Deine Beinkraft. Manchmal besuchen uns Spinnen, alte graue Gesellen, sie kommen nicht länger davon.

Hast Du hier mal gelebt? War hier Deine Dunkelheit? Hast Du Dich vergraben? Hast Du bestraft und gesühnt zur gleichen Zeit, hier? Hast Du die Uhr angehalten und Dich vereinsamt? Hast Du erpresst und aufgegeben?
Ich behalte Dich nicht so in Erinnerung.
Ich lasse Dich lachen und mit hoher Stimme singen und vorlesen und ich lasse Dich kümmern und mit stillem Stolz Autofahren. Ich lass uns mummeln und im Bett liegen und Du erzählst von früher, dann lass ich Dich beim Wer-zuerst-einschläft-gibt-Bescheid-und-gewinnt vor. Auf mich aufpassen lasse ich Dich und Hallo Ü-Wagen hören und Kreuzworträtsel machen und Styroporkugeln sinnlos mit Stoffbändern beschmücken. Ich lasse Dich violette Pullover stricken und mir Wollreste schenken. Ich lasse Dich unsicher den Herrn Jesus von der Wand nehmen, nur für eine Nacht, nur, weil er mich im Schlaf angrinst. Ich lasse Dich mehr Fragen stellen als Antworten geben. Ich lasse uns H-Milch trinken und Pickert essen und Dich lasse ich Platt reden und mich staunen.
Und den ganzen Rest, den geben wir auf, den lassen wir ziehen, den schreiben wir nicht auf die Ahnentafel. Ich lasse Dich meine Oma sein und mich Deine Enkelin.

Schöner, wohlgewogener Tag heute. Einer ist dreißig geworden.

Schöne neue Welt

Verschlungene Büropfade haben mich zu einer Kundenmagazin-Kolumnistin werden lassen. Eigentlich werde ich ja für andere Tätigkeiten bezahlt, fortan schreibe ich zusätzlich für den Elternclub einer äh Drogeriekette über meinen Job als Mutter. Nun ja. Jedenfalls darf ich jetzt mit den coolen Kindern aus der Redaktion spielen. Redakteure sind wirklich gesegnet. Sitzen den ganzen Tag rum, recherchieren, konzipieren, interviewen, schreiben und stimmen sich mit der Grafik ab. Grafiker! Alter. Grafiker sind die Kaiser. Nur die Leute vom IT-Support sind mir lieber. Wenn meine Texte gelayoutet werden, gehe ich zu einem Grafiker, sage dem wirr und unverständlich, was ich mir grafisch vorstelle und peng setzt der was ganz anderes um und es sieht fabelhaft aus, meistens bis immer. Wenn mir jemand eine Umschulung schenkt, werde ich Grafiker. Falls das nicht klappt, zwinge ich später auf jeden Fall Dr. Schmotzen dazu.
In der letzten Woche habe ich einen Text für die Kolumne geschrieben, in dem es um das Kind und sein pinkes Leben geht. Ein Lightanteil Gender-Trouble steckt drin, der hoffentlich die Freigaberunde beim Auftraggeber übersteht. Die Kernaussage ist natürlich, dass ich den freien Geschmack meiner Tochter respektiere und ihn ihr lasse. Ich unterstütze sie sogar darin und schenke ihr mehrere Quadratmeter pink:
Gestern und heute haben der Monsieur und ich in Dr. Schmotzens Abwesenheit das Kinderzimmer entrümpelt und renoviert. Während ich zunächst in einer Sporthalle bei einem niemals endenden Volleyballspiel auf Bälle schlug und Annahmen verhagelte, begab sich der Mann in den allerschlimmsten Raum und schuf aus dem Lager für Schrauben, Papierschnipsel, Zopfgummies, Magnete, Stempel, unvollständige Puzzle und Allerlei drei Haufen in aufsteigender Größe: im Kinderzimmer behalten, ins Archiv für zukünftige Kinder überführen, dem Haushalt dauerhaft entziehen.
Wir haben einen Großteil Dr. Schmotzens Gegenstände weggeschmissen. Ist das erlaubt?
Das Kind ist ein Bewahrer. Es administriert sechzehn unterschiedliche Sammlungen. Die absurdeste besteht aus sorgsam zerfitzelten Papiertaschentüchern. Bestand. Das Zimmer war voll mit Kram und arm an Platz, aufzuräumen brachte regelmäßig nur kurz Besserung. Wir haben uns also in moralisch grenzgraues Gebiet begeben und über Dinge verfügt, die uns nicht gehören und deren emotionalen Wert wir schlecht einschätzen können. Das Kind hat nun einen fast leeren Raum, in dem neue, halb gefüllte Aufbewahrungsmöbel stehen, einen Teppich, der ihm eine abgegrenzte Spielfläche gibt, und vorsichtshalber, als Verkaufsargument, eine pinke Wand.
Als ich in der letzten Nacht die Wand strich, mit einem sportmüden Körper, sorgend, dass die Farbe nicht reicht, fiel mir auf, wie wichtig Legenden sind. Ich überlegte, wie ich Dr. Schmotzen erklären könnte, dass wir Hand an ihre Sachen gelegt hatten. Wenn ich meine Tochter über etwas informiere, verweise ich ziemlich oft auf die Geschichten meiner eigene Kindheit. Und ich merke dann, wie sie ihr Halt und Orientierung geben. Und wie mir damals die Geschichten meiner Eltern etwas übers Menschsein und Identität gezeigt haben, wobei meines Vaters Erzählungen die weitaus besseren waren. Die meiner Mutter handelten meistens davon, wie sie weite Teile ihrer Kindheit mit ihrem kleinen Küchenofen gespielt hat, im Wald rumsaß und nicht sprach (dafür konnte sie mir besser vorlesen). Ich glaube, Werden und Wachsen, auch kollektiv, geht über Geschichten, über Mythen, die auf menschliche Ureinheiten verweisen. Legenden, plötzlich habe ich sie verstanden. Zumindest dachte ich das gegen ein Uhr zwanzig letzte Nacht. Es folgte unruhiger Schlaf mit mehreren Träumen, in denen ich immer wieder in Gewehrläufe blicken musste, die sich in letzter Sekunde dann abwandten und andere Menschen anpeilten. Ich rannte viel. Heute morgen habe ich dann die pinke Wand veredelt und meinen Angstgegner, die Bohrmaschine, bezwungen. Wenn ich bohre, denke ich, augenblicklich treffe ich auf eine Starkstromleitung und falle tot um. Andererseits macht es wesentlichen Spaß, Steinstaub rieseln zu lassen und etwas zu bauen. Und das ganze Getöse erst.
Das Kind mag das Zimmer im neuen Zustand, es mag die Klarheit und Weite. Es begann sofort mit einer Inventur des Besitzstands und bislang habe ich noch keine Vermisstmeldung aufgenommen. Vielleicht findet es die Leere im neuen Raum ja verheißungsvoll und vortrefflich gestaltbar.