Im magic loop

Guter Urlaubszustand im Kopf, ich habe wie immer in dieser Zeit die Kontrolle über die verinnerlichte Dauer von wiederkehrenden Intervallen, zum Beispiel Tagen, verloren. Alles eine Suppe gerade. Anfang der Woche haben wir den Keller ausgemistet und einen kleinen Haufen Sperrmüll identifiziert. Weil wir so gut im Anpackenmodus waren, haben wir uns direkt gekümmert, dass er mit bürokratischem Aufwand abgeholt wird.

Die Stadtverwaltungsfrau: Der nächste freie Termin wäre am dritten Januar.
Mein Gehirn: Oh super, das ist ja direkt morgen!
Ich: Oh super, das ist ja direkt morgen!
Die Stadtverwaltungsfrau: Der dritte Januar ist nächste Woche Dienstag.
Ich: Oh shit, Silvester war ja noch gar nicht.
Die Stadtverwaltungsfrau: Jep.

Im Moment stricke ich viel und zum ersten Mal sind es keine rechteckigen Gewebe aus rechten Maschen, die man auch Decken für winzige Menschen nennen könnte, sondern dreidimensionale Hohlkörper aus rechten Maschen, die man Socken oder Pulswärmer nennen könnte. Dazu schaue ich fachliterarische Videos aus der Knitting-Branche. Und dann habe ich plötzlich meine Haare geschnitten. Ich mach das seit ein paar Jahren immer selbst, mein Opa hat vor dem Zweiten Weltkrieg für ungefähr einen halben Tag als Friseur für Frauen- und Männerköpfe gearbeitet und so schwer kann das ja wohl nicht sein. Normalerweise geht es ganz gut, wenn ich Haarpartien waagerecht vom Kopf weghalte und denn absäbele. So entstehen unter Nutzung von Geometrie dann leichte Stufen. Am Ende mache ich einen Zopf und schnippele noch ein wenig in die Spitzen rein, das sorgt dann dafür, dass alles gleichmäßig schief aussieht. Das klappt hinlänglich erfolgreich, wenn man ungefähr vier Zentimeter kürzen möchte. Ich aber wollte einen völlig neuen Look. Und so hab ich dann einfach drauf losgeschnitten mit meiner alten Küchenschere und schon bei der ersten Strähne vorn links dachte ich: Oh shit, oh fuck, fuck me. Ist immer auch schön zu merken, wie Selbstwirksamkeit reinkickt, auch mal anders als erhofft. Aber ich habs durchgezogen und was soll ich sagen? Es ist absolut dilettantisch geworden und wie schwierig ist es, am eigenen Hinterkopf irgendwas planvolles zu veranstalten, aber unterm Strich regeln meine ein bisschen lockigen Haare das jetzt. Und außerdem kommts eh immer nur auf die innere Haltung zu den Dingen an. Man kann sich mit viel mehr durchs Leben bullshitten als man so denkt.

Es gibt nun ein Schlagzeug in dieser Wohnung. Das große Kind hat es ins Zimmer gequetscht und trommelt seither eigentlich ununterbrochen Linkin Park, was interessant klingt, weil sich klangmäßig alles in Kopfhörern abspielt, bei uns kommt nur die ganze Energie und Dramatik an, mit der rumgekloppt wird. Damit es reinpasst, haben wir ein paar Möbel gestapelt. Das Zimmer besteht nun eigentlich nur noch aus gedrungenen Gruppierungen von essenziell notwendigen Einrichtungsgegenständen, Duftkerzen (es ist eine Phase) und einem raumfordernden Musikinstrument.

Das kleine Kind kann nun schwimmen, somit habe ich alle elterlichen Pflichten erfüllt und verabschiede mich nun langsam in die Phase, in der man nur noch auf Enkelkinder wartet.
Wir haben einen Schwimmkurs gemacht und nachdem es eine Zeit lang ein wenig stagnierte und die Hemmschwelle überwunden werden musste, das Schwimmbrett abzugeben und Arm- und Beinbewegungen zu synchronisieren, hat es dann innerhalb von zwanzig Minuten plötzlich sehr beeindruckend so gut geklappt, dass auch der Korkengurt immer weiter auseinandergebaut und dann nicht mehr gebraucht wurde und sie einfach schwimmen konnte. Und wie eine kleine Berserkerin mit maximalem Körperseinsatz vom Rand, vom Startblock, vom Ein-Meter-Brett und vom Drei-Meter-Turm ins Wasser flog. Ich bin so froh, bei dieser Entwicklung dabeigewesen zu sein und freue mich schon, ihr diese Geschichte über Durchhalten und sich Unbekanntem aussetzen und den dahinterliegenden winkenden Spaß im Blick haben in den verschiedenen frustrierenden Phasen ihres Lebens erzählen zu können.
Gestern war ich mit ihr im Schwimmbad und nachdem wir ein wenig geschwommen waren, hat sie eine kleine Wasserbekanntschaft mit einem anderen Kind gemacht und ich hab mich auf die Wärmebank verkrümelt und die beiden in Ruhe ihre Unterwasserabenteuer durchspielen lassen. Da saß ich dann und es war warm und akustisch diffus und gedämpft und es roch nach Chlor und um mich herum sich bewegende Wasseroberflächen und ich trocknete vor mich hin und hatte nichts dabei, in das ich meinen Blick senken könnte, alles im Spind. Und so saß ich dann und verfiel in einen meditativen Zustand der temporären Mittellosigkeit und schaute einfach nur den Kindern zu und war frei von Gedanken.

Work, work, work

Morgen ist der 23. Dezember and I’m still working. Das gabs noch nie, normalerweise ist bei mir Mitte Dezember Schluss und ich fall in einen vorweihnachtlichen Modus der maximalen Passivität, der nur noch zulässt, in eine Decke gewickelt an die tausend Stücke dünner Presspappe so lange ineinanderzustecken, bis es einigermaßen passt und hübsch aussieht und dabei abmoderierende Grunzlaute von mir zu geben, wenn sich jemand nähert oder mich anspricht. Aber dieses Jahr nicht, oh no, dieses Jahr wird durchgearbeitet bis Mariah Careys Lieblingstag anbricht und außerdem Samstag ist. Was erstaunlich okay ist? Was mich daran denken lässt, dass eine Lektorin beim früheren Arbeitsplatz immer wollte, dass wir im Heft okay mit o.k. abkürzen, was schrecklich aussieht. Und was ich nie gemacht habe.
Jedenfalls habe ich in den letzten Monaten viel gearbeitet und viel über mich gelernt und viel übers Arbeiten gelernt. Ich habe mit dem neuen Job eine Arbeit erwischt, die aus einer Aneinanderreihung und Verschachtelung unendlich vieler wohlproportionierter Tätigkeiten besteht, die alle mittlerweile vertraut sind, aber immer auch ein wenig neuartig und sparkly. Es passiert ständig irgendetwas, das ich anklicken muss. Oder prüfen oder anfragen oder vorbereiten oder nachbereiten oder liefern oder annehmen oder beauftragen oder abnehmen oder sperren oder bestätigen und aktualisieren oder bestätigen ohne zu aktualisieren oder auswählen oder rückmelden oder durchdenken oder planen oder anbieten oder analysieren oder abschließen. Immer müssen Lösungen her und wenn ein Problem platt gemacht wurde, kommt schon das nächste. Was aber gut ist: Alle Probleme sind immer lösbar und mittlerweile weiß ich das auch und kenne mich schon ganz gut aus und darum passieren hormonell interessante Dinge. Dauernd die Schublade aufziehen zu können, sich ein kleines gut handelbares Problem rauszunehmen, es zu betrachten, zu lösen und wieder zurückzulegen, lässt das Dopamin nur so plätschern und ein angenehmer Flow stellt sich ein. Also an mittleren bis guten Tagen.

Ich arbeite in der language industry. In der language industry arbeiten eigentlich nur Drinnies. Übersetzer*innen und Lektor*innen sind Leute, die graben sich ein in Texte und Recherchen und Kommentare und Terminologien und Konsistenzen und Fachgebiete und Styleguides und Corporate Wordings und Dudenauflagen. Die wollen nicht am Telefon sprechen, die wollen ne Mail bekommen und ihre Ruhe haben. Die sind freiberuflich und sind schon im Ruhestand oder noch im Studium oder auf Weltreise oder in Elternzeit. Die reagieren auf Jobanfragen manchmal auch sehr aus dem Inneren heraus. Wenn sie lange nicht beauftragt wurden und es gerade schwer ist mit dem Geld. Oder wenn sie ihre Deadline nicht halten können, weil ihre Mutter ins Krankenhaus musste. Die Mutter von ihnen ist oft im Koma. Überdurchschnittlich häufig habe ich den Satz „meine Mutter ist leider ins Koma gefallen, kann ich den Text eine halbe Stunde später liefern“ gelesen im letzten halben Jahr. Das ist ok, ja klaro geht das. Einer hat mir geschrieben, dass es ihm emotional nicht gut gehe und sich eine schlimme Krise entwickelt habe am Morgen und er lieber zum Arzt will, statt zu übersetzen. Das ist doch ganz klar. Es ist selten, aber es kommt vor und ich mag, wie sie mir als Auftraggeberin zeigen, dass ihr Leben vorgeht und dass sie darauf vertrauen, dass es unsere Arbeitsbeziehung nicht stört. Aber auch schöne Dinge werden geteilt, Hochzeitsfotos. Ich habe ein Hochzeitsbild gesehen, da hat unser Übersetzer in Polen seine Frau geheiratet, mit der er nach Mexiko zieht und seine Mutter schaut so unglaublich mies gelaunt aus. Die Mutter von Leuten in der language industry, ich bekomme ungewöhnlich viel von ihr mit. Einer hat ein Lama gestreichelt und direkt ein Bild gesendet, jemand denkt sich privat gern Musikrätsel aus, schickt sie an einen riesigen Verteiler mit beruflichen Kontakten und verlost dann Gewinne. Aber allerallermeistens liefern sie einfach nur sehr gründlich und zuverlässig ab. Und fischen tonnenweise Rechtschreibfehler aus Ausgangstexten raus, nebenbei als Service. Ich mag die Menschen der language industry.
Hier erhält man einen kleinen Einblick, wie sie arbeiten und wie eine Übersetzung entsteht.

Der Urlaub war super, wir haben ihn abgebrochen

Wir haben Ende Mai gedacht, wir brauchen im Sommer außerhäuslichen Urlaub und haben geschaut, wo noch was frei war. Und vielleicht liegt da schon der Fehler. Bzw. fängt da schon unsere verhaltensauffällige Beziehung zu Urlaub an. Warum fällt uns das mit dem Urlaub immer erst zehn Minuten vor Abreise ein? Und dann müssen wir hektisch Airbnb durchwühlen und ärgern uns, dass schon alles ausgebucht ist. Warum können wir das nicht wie andere Leute schon im Winter vorher oder so erledigen?
Wobei, es war anders, wir haben geschaut, was noch wo frei war. Also was war wichtiger als wo. Eine Behausung mit Garten sollte es sein und ruhig. Und gern so groß, dass die Kinder in richtigen Betten schlafen und nicht im Wohnzimmer auf dem Sofa, das man dann jeden Tag umbauen muss. Wir haben auch was gefunden, sogar in neu, alles frisch renoviert und mit schönen Tellern, Tassen und Löffeln ausgestattet und das Waschbecken im Bad war auch sehr hübsch. Und sogar nicht in Doitschland gelegen und trotzdem recht fußläufig am Ende der A2. Wir haben uns sehr drauf gefreut und unser kleines Auto ganz voll gepackt und auch die Sommerreifen noch schnell draufgezogen. Und dann waren wir da und die Sonne schien und der Badesee war auf der einen Seite etwas klein, aber wenn man durch ein kleines Wäldchen ging, kam man an der anderen Seite raus, am Campingplatz, und da wars schön und da war nichts los und da gabs Schwäne, auf denen man über den See strampeln konnte. Das haben das große Kind und ich übernommen, hinten saßen die anderen beiden und haben entweder Stress gemacht wegen Haien oder wegen zu großer Langsamkeit.

Und dann sind wir ein paar Tage lang zum See gegangen und durch die Gegend gelaufen und waren im Supermarkt und im Garten und haben gegrillt und Cornflakes zu Kinderfernsehen gegessen und lagen rum und haben gelesen und mit Bällen und Ballsportgeräten gespielt und haben mit einem Gasherd gekocht und in heißen Zimmern unterm Dach geschlafen und dann hats uns allen gereicht und wir haben nach vier statt nach sieben Nächten unsere Sachen gepackt, aufgeräumt, sauber gemacht, das Auto beladen und sind nach Hause gefahren. Und wenn man dann dort ankommt und alles wieder auspackt und verräumt und wäscht (kaum schmutzige Wäsche natürlich) und dann fertig ist, fühlt es sich an, als habe man ein paar Bonustage geschenkt bekommen und gleichzeitig fragt man sich, ob man den größten Knall von allen hat. Dass man die Tage im Jahr, an denen man woanders sein kann und dafür ja auch viel Mühe und Mittel investiert hat, verschwendet, weil man sie nicht voll ausschöpft, sondern nur bis zu dem Moment, an dem es eben reicht. An dem man merkt, es zieht einen wieder nach Hause, wo alles ist, was man braucht und mag. Wo Spielsachen und Bücher und Spiele und eine eigene Zimmertür dafür sorgen, dass schlechtes Wetter komplett egal ist und gutes auch. Wo man einfach nichts machen muss, anders als an den allermeisten Tagen im Jahr. Nur sein.

Es ist ein bisschen so, wie eine top Pizza vom Lord aller Pizzen serviert zu bekommen und dann nach der Hälfte, die wirklich gut war, eine wirklich außergewöhnlich schön gemachte Pizza, zu merken, dass der Hunger weg ist und es eigentlich reicht. Und dann einfach aufhört, sich bedankt und geht. Klingt doch eigentlich ganz gut. Klingt ja fast schon nach achtsamer Urlaubsführung.

Zeit im Mai

Wenn man von morgens bis nachmittags frei hat, ist das ein sehr gutes Zeitfenster. Da bleibt eine gewisse Grundspannung bestehen und trotzdem fühlt es sich nach so angenehm unüberschaubar vielen Minuten an. Frei haben bedeutet: Die Kinder sind in der Schule, Erwerbsarbeit fällt aus (wegen Kündigung aus den richtigen Gründen. Gibts falsche? Ich weiß nicht, vielleicht schon. Ich hatte jedenfalls in Absprache mit meinem Wertesystem richtige und gute und ich ziehe also weiter und freue mich auf alles, was bald an neuer Stelle kommt. Aber bis dahin halt: Urlaubstage abbauen und Überstunden ausgleichen). Es gibt keine Termine und um die Steuererklärung oder das Badezimmer muss sich nicht so superdringend gekümmert werden, dass es nicht auch morgen noch reicht oder im Herbst. Es muss sich für sieben Stunden um so gut wie gar nichts gekümmert werden, wenn man atmen nicht als offenes to do begreift, und ich entscheide ganz allein, was ich in der Zeit mache. Erstmal Kaffee, O-Saft, Marmeladentoast frühstücken im Bett mit den Tagesthemen. Dann direkt liegen bleiben mit einer Folge The Office. Dann auf den Balkon umziehen und die Pflanzen anschauen, mit einigen ein paar freundliche Worte wechseln. Wie schön sie wachsen, dieses Grün, diesen Sommer haben wir Rosen, ich werde alt. Dann Podcast hören, anziehen und Zähne putzen. Dann eine Runde raus, spazieren oder mit dem Rad in den Garten fahren. Dort die Pflanzen anschauen, wie schön sie wachsen usw., eine Hütte wird gebaut. Dann zurück, ein bisschen was Leckeres kochen und auf dem Balkon essen. Dann auf der Bank dort lesen oder am Schal stricken und einen Kaffee trinken oder eine Limo. Dann kommt das erste Kind von der Schule zurück und es ist Zeit, aufzubrechen, um das zweite Kind von der Schule nach Hause zu begleiten. Das wars mit der Selbstbestimmung. Sieben Stunden sind genau die richtige Dauer, um nicht vollends zu versacken und gleichzeitig trotzdem richtig gut rumzutrödeln. Ich habe das nun ein paar Wochen so gemacht und stelle fest: Es geht mir so gut wie lange nicht, diese Leichtigkeit, warum geben wir sie so schnell her. Und in Woche zwei und drei hätte ich fast einen Hund gekauft. Leider gab es da im Tierheim kein Modell, das bestens erzogen, Kindern zugewandt, stubenrein, gleichmütigen Charakters, carearbeitsbegabt, arm an Körperausscheidungen, bewegungsfaul und auch sonst komplett anspruchslos war, darum hat das nicht geklappt. Daran anschließend habe ich mich dann mit Staubsaugerrobotern, die auch wischen können, beschäftigt und so einer wird’s wohl bald mal werden.

Trick

Dem Drinnie-Kind Bluetoothkopfhörer aufsetzen, den Hamilton-Soundtrack auf dem Handy starten, es in die Hosentasche stecken und nach draußen gehen.
Eine Runde spazieren und auf wundersame Weise folgt das Kind, tanzend sogar, und macht absolut gar keinen Stress.

Bei Trost

Ich hab jetzt einen Ordner auf meinem Handy eingerichtet, da lege ich Screenshots von Texten rein, die mindestens einer Ecke in mir gut tun und ich nenne ihn mental health. Mental health ist „be soft and kind but take no shit“. Mental health ist „is it cool if i misinterpret this through a distorted lens of anxiety“. Mental health ist „the bees. they know everything. be a person. be a person again“. Die Ecken in mir sind überall woanders, aber es sind im letzten Jahr viele geworden. Die Pandemie und einige andere Umstände haben diese dünne Haut verändert, die uns umgibt und die uns bei Laune hält, bei Verstand, die uns ermöglicht, vor die Tür zu gehen, ins Flugzeug zu steigen, uns ins Auto zu setzen, ins Konzert mittenrein zu gehen, keine Ahnung vielleicht auch einfach mit Skiern einen Hügel runter zu fahren, all die Sachen zu tun, die Menschen machen, weil sie sie erfunden und sich zu eigen gemacht haben, weil sie sie ausreichend gut beherrschen. Weil unser Hirn normalerweise ausblendet, wie verletzlich wir gebaut sind mit unseren ganzen Eingeweiden direkt unter der Bauchdecke und so. Weil das Gefühl getragen zu sein uns begleitet und davor schützt, zu viel Schutz aufzubauen, zumindest war es bei mir so und vielleicht ist das allein schon ein großes Glück gewesen, ein Privileg, das nicht selbstverständlich ist. Es ist mir ein wenig abhanden gekommen, die dünne Haut ist bei mir stellenweise durchsichtig geworden, glaub ich. Jedenfalls hätte ich manchmal gern einen Bunker. Und da würd ich dann mein Leben drin verwalten. Und dabei durchschnittlich alt werden und unterdurchschnittlich oft existenziell herausgefordert zu sein. Und das allein ist schon mal der dümmste Wunsch ever und er bringt mich direkt zu Gott herself, Denn Gott fände es vermutlich richtig mies von mir, mich einzubunkern und quasi die Schöpfung in Marmeladengläser zu füllen, nur damit bloß nichts passiert. Nur damit niemand vor der Zeit stirbt. Fuck off, das geht so nicht. Raus mit dir und du kannst eh nicht tiefer fallen als in meine Hand, würde sie sagen. Aber ich glaub halt nicht an Gott und das war bislang kein Problem für mich, aber nun merke ich langsam, dass es mich doch schon an den Rand von irgendwas bringt. Dass ich ein spirituelles Gesamtkonzept als Orientierungspunkt am Horizont jetzt vielleicht doch ganz gut gebrauchen könnte. Thea Dorn hat beim Alles gesagt-Podcast gesagt, dass es eigentlich nur rational und logisch ist, genau jetzt in dieser Pandemie als Antwort auf diesen ganzen globalen Abfuck gläubig zu werden. Dass Glauben den Trost spendet, der uns hilft, die Erkenntnis zu überwinden, dass Kontrolle eine Illusion ist.
Gut, also wollen wir’s auch mal nicht übertreiben. Ich kuratiere mir jetzt offensichtlich meinen eigenen Sprüche-Wandkalender in meinem Handyordner, das ist nicht nichts.
Mental health ist „everything you want is on the other side of fear“. Mental health ist „there is a crack in everything and that‘s how the light gets in“. Mental health ist „learn to sit back and observe. not everything deserves a reaction“.

Zweite Herbstferienwoche

Letzte Woche hatte ich Urlaub, das war sehr gut verbrachte Zeit. Monsieur LeGimpsi fuhr zur Arbeit, die kleine Tochter war zwei Nächte bei der Oma, die große vormittags beim Theaterworkshop: Ich hatte viel Zeit für mich und für meine Verhältnisse war ich ziemlich rege.
Also erstmal bin ich viel Straßenbahn gefahren. Vor Corona war das mein tägliches Hauptverkehrsmittel, seit ich zu Hause arbeite, sitze ich nur noch selten in diesem komischen Blechwurm, der sich durch die Stadt schlängelt. Diese Woche war ich andauernd mit der Bahn unterwegs und wie neuerdings immer, wenn geschlossene Räume, Leute und ich aufeinandertreffen, fühle ich mich nicht besonders wohl, irgendwie unterschwellig bedroht. Hm.

Ich hatte zum ersten Mal eine professionelle Zahnreinigung. Also ich achte in meinem restlichen Leben voll auf maximal gründliches Amateurinnenputzen, darum war diese Behandlung auf meiner Prioliste immer sehr weit unten. Stellt sich raus: Das ist ja ungefähr das beste, was man machen kann! Hätte ich das vorher gewusst. Meine Zähne sind so super zahnsteinfrei und blankpoliert jetzt, das gibts gar nicht. Ich habe sogar eine winzige Lücke zwischen meinen unteren Schneidezähnen rausgefräst bekommen. Das Mundgefühl ist völlig neu.

Und dann hatte ich noch zwei schöne Spaziergänge mit Freundinnen. Meine Erhebung der Gesprächsthemen zeigt: 100 Prozent der Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sind ebenso wie ich in beruflich nervig-anstrengender Lage. Vielleicht ist es ein Lebensabschnittsthema, vielleicht ist die zweite Hälfte der Dreißiger einfach arbeitsmäßig kacke.

Ich schaue viel Emma Chamberlain im Moment. Ich mag die evolving-Videos alle echt gern. Die haben editing-mäßig ein wenig was von Casey Neistat. Es wirkt, als führe Emma ein komplett isoliertes, abgeschnittenes Leben quasi vom Bett aus. Aber selbst wenn sie sich durch öffentlichen Raum bewegt, kommt es mir vor, als sei sie der einzige Mensch auf dem Planeten. Schlimm ist hingegen, dass sie quasi ununterbrochen ungewaschene Blaubeeren isst.
Jedenfalls trinkt Emma ungefähr tausend Iced Latte am Tag und darum hab ich das auch mal probiert und ich muss sagen: Zu Recht, es schmeckt super. Geht ganz einfach und ist bei mir koffeinfrei: eine Handvoll Eiswürfel, 150 ml Hafermilch, 1 TL Ahornsirup, 1 (koffeinfreier) Espresso. Alles aufeinanderkippen, umrühren, nachhaltiger Strohhalm rein, yay.

Ich hab mich mit den boys von der Antifa getroffen. Wir haben mit Planungen begonnen, wie man Nazis den nächsten Wahlkampf schwerer machen kann. Ich hatte selten mit so freundlichen, aufmerksamen und wenig dominierenden Mitmenschen zu tun. Das war sehr angenehm.

Mitte Oktober sind zwei Babys von super Leuten geboren. Ich hab was eckiges, kraus rechtes gestrickt und auf den Weg geschickt. Einmal in den Westen, einmal in den Süden. Wie immer ein großer Spaß.
Alles Gute für euch, lieber J und lieber P. Komische Welt, auf der ihr gelandet seid, aber gut, müsst ihr selbst wissen. Wobei dieses Gespräch zwischen Nicolas Semak und Frank Schätzing irgendwie Mut macht und Hoffnung gibt, dass vielleicht doch nicht alles nur scheiße wird. Vielleicht kriegen wir alle miteinander noch die Kurve.

Und dann ist was verrücktes passiert: Wir haben plötzlich Zugriff auf einen Garten. Mit eigenem Schlüssel! Es handelt sich um 240 qm Grabeland ohne Strom und Wasser, dafür mit verschimmelter Hütte. Wir können über Grünstreifen mit dem Fahrrad hinfahren und haben bereits sehr viele Himbeerpflanzen als Sichtschutz gepflanzt. Es sind noch einige andere mit dabei und mal gucken, wie das so wird. Vielleicht echt ganz gut.

Und einen cuten Igel getroffen. War ne gute Woche, bald ist Weihnachten.

Wählen

Wieder Wahlhelferin gewesen und damit Ehrenschulden bei der Landesregierung eingelöst, die mich schon im Juni geimpft hat, als es sich so anfühlte, als dauere das mit dem Impfangebot für alle noch unerreichbar lange. Ich weiß noch, dass ich ein schlechtes Gewissen und lange überlegt hatte, ob es in Ordnung ist, mich als gesunder, junger Mensch impfen zu lassen, obwohl meine Zeit noch nicht gekommen war. Und ich dadurch ja Vorteile für mich beanspruche, die eindeutig zum Nachteil der Personen sind, die vor mir auf der Warteliste stehen. Aber andererseits war ich im Juni an einem very dark place angekommen, was die Produktion und Akkumulation von Angst vor dieser Krankheit anbelangt. Ich habe die Zeit zwischen November und Juni als großen Kontrollverlust wahrgenommen: Einerseits hab ich mich selbst so gut wie möglich isoliert und ununterbrochen vernünftige Entscheidungen getroffen. Andererseits wusste ich, dass unsere Kinder in Kita, Schule und Straßenbahn jeden Tag unvermeidbar viele soziale Kontakte haben und wir auch als strengste Coronaeltern der Welt da nicht viel machen konnten. Nun ja, die Tatsache, dass 75 Prozent unseres Haushalts nun einen sehr guten Schutz haben, hat ein paar blockierte Hintertüren in meinem Kopf geöffnet und die Angst ist in den letzten Wochen sehr gut aus mir rausgeflossen. Jedenfalls Bundestagswahl.
Dabei lustige Vorkommnisse erlebt: Wirklich viele Personen hatten Schwierigkeiten beim Falten des Stimmzettels. Das sah am Ende dann so aus wie beim derzeitigen Wahlverlierer und weil wir gute Wahlhelfende waren und Artikel 38 des Grundgesetzes ehren, haben wir die dann zurück in ihre Kabine geschickt, damit sie nochmal neu falten konnten. Manche haben ihren Stimmzettel auch direkt vor uns komplett auseinandergefaltet, das hat dann immer zu reflexhaft schmerzvollem Aufstöhnen und Abschirmen der Augen mit beiden Händen unsererseits geführt. Wie so Vampire, die zur falschen Uhrzeit die Gardinen aufschieben. All the Drama, aber das war es Wert. Hab kein Kreuz erkannt, das Grundgesetz wurde nicht kompromittiert.
Ein Typ hat sich in der Wahlkabine einen Papercut zugezogen und stand dann mit komplett blutverschmiertem Stimmzettel vor uns. Haben dann überlegt, dass da jetzt schon sehr viel sichtbare DNA drauf gelandet ist und wir auch hier leider auf den Schutz des Wahlgeheimnisses bestehen müssen. Hat er dann eingesehen, den Stimmzettel zerrissen, Erstversorgung erhalten und neu gestimmt.
Eine Frau stand mit ihrem Personalausweis vor mir und meinte, dass ihr Kleinkind ihre Briefwahlunterlagen gegessen habe, ob sie jetzt in der Kabine wählen kann. Also bei Briefwahlunterlagen ist es so: Man kann die vor der Wahl anfordern. Dann bekommt man einen Wahlschein und einen Stimmzettel nach Hause geschickt und dann nimmt man halt per Briefwahl teil. Man kann aber auch am Wahltag in irgendein Wahllokal innerhalb des Wahlkreises laufen und dort dann wählen. Dazu muss man den Wahlschein vorzeigen, der wird dann einbehalten, den Stimmzettel zerreißen und in der Kabine auf einem neuen Stimmzettel die Kreuze machen. Logisch. Ohne diese Unterlagen gehts dann halt aber nicht. Und so wars bei der Frau leider auch.
Naja, ansonsten ist es ein eher ruhiger Tag in unserem Wahlraum gewesen. Irgendwie macht mir diese Arbeit Freude. Überwiegend angenehmen Leuten begegnen, aufpassen, das Wahlregister sauberhalten und am Ende alles zählen, protokollieren, melden und verräumen. Bald ist Landtagswahl.