Dr. Schmotzen fand ihre ersten Sommerferien nur so mittelgut. Sie waren ihr zu lang und zu weilig. Wir waren nicht im Urlaub, haben ein paar Ausflüge gemacht, es hat viel geregnet, manchmal gabs Pizza, ich kann sie verstehen. Heute Morgen war sie sehr früh wach, verkündete, sie sei jetzt Zweitklässlerin, das würde sich auch aufs Taschengeld auswirken, zog sich an und wartete auf den Bus.
In Dr. Schmotzens Schule bilden Erst- und Zweitklässler zusammen eine Lerngruppe. Sie arbeiten in Patenschaften, immer ein großes Kind mit einem kleinen. Von Zeit zu Zeit wechseln die Partner, das hängt von der Dynamik in der Gruppe ab und wie viele Kinder das Bedürfnis haben, ihren Partner zu tauschen. Jede Lerngruppe hat eine Partnerlerngruppe. Mehrmals die Woche werden die großen Schüler beider Lerngruppen zusammen unterrichtet und die kleinen ebenfalls. Am Ende des Schuljahrs werden die großen Schüler der zwei Lerngruppen gemeinsam eine Klasse der dritten Jahrgangsstufe bilden und einen neuen Lehrer bekommen. Manche Schüler bleiben aber auch ein weiteres Jahr in der Eingangsstufe, einfach, weil sie dort besser lernen können. Ich mag dieses Modell sehr gern. Ich finde, da hat sich jemand gründlich Gedanken gemacht und entspannt und großzügig konzipiert. Und ich mag, dass es in einer ganz normalen, eher konservativen katholischen Grundschule stattfindet. Schon seit zehn Jahren. Anfang der Neunziger saß ich in genau den Räumen und wurde von Lehrern in grauen Dreireihern und greisen Priestern unterrichtet. Wie schön, dass die Schule die Kurve gekriegt hat, obwohl die Rektorin immer noch die gleiche ist.
Viele Eltern sehen das Modell ziemlich skeptisch und sorgen sich, dass die Kinder bei der ganzen selbstständigen Arbeit und dem kooperativen Ansatz fachlich zu wenig lernen. Ich habe da null Befürchtungen. Es gibt natürlich das übliche Curriculum, alle paar Wochen werden Lernstandserhebungen durchgeführt, die Lehrerin hat gut im Blick, wo sich welcher Schüler gerade befindet. Dr. Schmotzen zum Beispiel ignoriert in ihrer Freiarbeit Mathe konsequent. Die ackert dafür alle Materialen zu Schreibübungen in Blitzgeschwindigkeit durch und lernt Gedichte auswendig. Dann und wann drückt die Lehrerin da mal auf die Bremse und sorgt für Ausgleich. Dann gibts Mathewochen fürs Kind.
Im letzten Schuljahr gehörte Dr. Schmotzen zu den Kleinen. Da hat sie meistens gute Erfahrungen mit ihren Partnern gemacht, manchmal aber auch schlechte und genau in den Momenten meinte sie, dass sie sich als Zweitklässlerin pädagogisch mehr Mühe mit ihrem Erstklässlerpartner geben werde. Vor allem in den ersten Monaten wolle sie sehr milde und geduldig sein. Wolle großmütig und zugetan ihrem Partner zu geistigem und persönlichem und körperlichem Wachstum verhelfen. Wolle engagiert und aufgeschlossen der humanistischen Lehre dienen und stets mit gutem Beispiel vorangehen. Niemals vorsagen, niemals ablenken, niemals die Bleistifte des Lernpartners ausleihen und dann verschwinden lassen, niemals dessen Pausenbrot essen. Nun denn. Morgen werden die neuen Kinder eingeschult, wir werden sehen, wie es sich anlässt. Vermutlich wird sie ziemlich oft genau so eine Besserwisserin sein, wie es in der Natur der Zweitklässler nunmal liegt.