Mein Nachbar

Der Mann meiner Nachbarin ist gestorben. Mein Nachbar also. Sie wohnen noch nicht lange bei uns im Haus und wir kennen uns nur aus der Ferne. Aus der Ferne sehe ich, wie der eine Mensch plötzlich fehlt und der andere sein Leben verloren hat. Meine Nachbarin sieht aus wie jemand mit großen Schmerzen. Wie nach einem Verkehrsunfall, wenn verschiedene Arten von Schmerz miteinander um die Wette brüllen und mal der eine, mal der andere führt und man selbst aber eigentlich gar nichts mehr zu melden hat. Wie jemand, der gerade erst begonnen hat, zu trauern und ahnt, wie tief der Brunnen sein wird, in den er gefallen ist. So eine Art von Trauer kenne ich nicht selbst und wenn ich meine Nachbarin sehe, habe ich nichts als Respekt für sie. Für das, was sie trägt und wie sie versucht, die Last auszubalancieren und wie sie manchmal daran scheitern wird.

Ich wundere mich immer wieder, wie schnell ein Mensch in diese Lage geraten kann. Wie dünn die Haut ist, die uns zusammenhält und warum wir nicht über dieses Wissen verrückt werden. Wie leicht es sich verdrängen lässt und mich glauben macht, mein größtes Problem derzeit sei, dass ich bald einen Kindergeburtstag für lauter Fünfjährige ausrichten muss.

Ich denke an meine Nachbarin und denke an mich selbst. Ich treffe meine Nachbarin auf der Straße und möchte ihr sofort von meiner Trauer erzählen und wie ähnlich das mit dem Tod in mein Leben kam und denke, das wird ihr ja sicher helfen, mich zu hören. Und ich treffe sie und sage nichts, denn wir sind nicht allein und der Moment nicht da. Und hinterher fällt mir ein, wie andere mir damals ihre Geschichten erzählt haben, wie sie ihre Pakete bei mir abgeladen haben, weil man anscheinend zur allgemeinen Lieferstelle wird, wenn man etwas erlebt, das im Alltag sonst nicht weiter besprochen wird. Wie sie vor mir standen und gesagt haben: Ich weiß was, ich weiß was. Und ich mich wie ein Gefäß, wie eine Vase gefühlt habe, in die jeder seine verdorrten Blumen stellte. Bloß dass ich eine Vase war, die gerade einen Verkehrsunfall hatte und in tausend Stücke zersprungen und von sehr vielen Pflastern gehalten wurde. Also mehr ein Haufen Glassplittermatsch, als herkömmliche Vase. Und da habe ich mich erschrocken, denn fast hätte ich das nun auch gemacht.

Dabei sollten wir unsere Geschichten teilen können, denn offenbar lebt in uns das Bedürfnis danach. Vielleicht nicht mit den frisch Betroffenen, die wir nur aus der Ferne kennen, die haben vom Leben für die nächste Zeit genug Input bekommen. Aber im Alltag. Mehr vom Tod sprechen, ihn mehr reinholen und ranholen zu uns, in unsere Gespräche. Mehr zeigen, was wir wissen. So vielleicht: Also die Erdbeeren diesen Sommer schmecken allesamt irgendwie etwas gummiartig, findest du auch? Mein Vater hat die ja geliebt, der konnte ständig Erdbeeren essen. Der ist eines schönen Tages einfach umgefallen und war sofort mausetot, verrückt oder? Naja, jedenfalls sind mir Erdbeeren deswegen immer äußerst sympathisch, egal ob gummiartig oder nicht.
Oder so ähnlich halt.

In Unkel sein

Also wir waren in Unkel.
Hä, fragte jeder, dem wir davon erzählten. Ja Unkel halt, kleines Örtchen am Wasser, umgeben von Weinbergen, oben in Rheinland Pfalz, nah am Siebengebirge, sagten wir. Achso ok, sagte jeder. Und: Na dann. Und wir sagten, aber wir bleiben nur für vier Nächte, erstmal nur mal gucken, wie es da so ist. Und dazu sagten die meisten: Ja klar. Und damit war eigentlich alles gesagt und das Erwartungsmanagement für den Sommerurlaub dieses Jahr für alle Beteiligten eingetütet.

In Unkel ist es eigentlich ganz schön. Wirklich netter historischer Ortskern direkt am Rheinufer. Dort lag auch unsere Ferienwohnung, die ebenfalls uralt war, mit passend mitgenommenem Holzfußboden und viel Geknirsche. Das Beste an ihr war aber die umfassende Bibliothek an Büchern, Spielen, Puzzlen und Hörbüchern. Da waren die Kinder natürlich sehr begeistert und vier Tage haben lange nicht gereicht, um sich alles in Ruhe anzuschauen. Vier Tage ist eh eine gute Zeitspanne, wenn man vorher nicht so genau weiß, was einen erwartet und was für eine Art von Urlaub das nun wird. Ankommen, drei Tage dort sein, wieder fahren. Lässt die gefühlte Zeit ganz dicht werden.

Was haben wir also gemacht außer Bodendielen gestreichelt und Hörspiele gehört? Der ideale Urlaub sieht in meiner Vorstellung so aus, dass ich drei Wochen lang in einer einsamen Hütte in Schottland mit einem Zentner Bücher und höchstens noch Monsieur LeGimpsi zusammenlebe und den ganzen Tag über nichts mache außer zu lesen und in sitzender Position in meiner näheren Umgebung rumzugucken, manchmal etwas zu essen zubereite und ansonsten schlafe und spaziere. Da das mit zwei Kindern aber nunmal zu reizarm und realitätsfern ist, haben wir uns für jeden Tag einen kleinen Ausflug überlegt. Wir waren mit der Drachenfelsbahn auf der Drachenfelsburg, wir waren im Zoo und im Freizeitpark. Und zwischendurch saßen wir am Rheinufer vor der Haustür und haben gespielt, haben andere Identitäten angenommen (Monsieur LeGimpsi war irgendwann Rüdiger Unbeteiligt und hat sich aus der Sache rausgezogen) und haben unterschiedliche Wasserfahrzeuge mit ihren jeweiligen Absichten angeschaut. Jetskis zum Beispiel waren offensichtlich immer auf der Flucht.

Zoos sind keine guten Orte. Ich denke das jedes Mal, wenn ich in einem bin und nach diesem Zoobesuch will ich es mir endlich merken. Und wenn sie die Nebenfunktion haben, gefährdete Tierarten zu erhalten, dann kann man sie auch besser erfüllen, als in zwanzig Quadratmeter großen Käfigen. Freizeitparks hingegen können gute Orte sein. Also zumindest der, in dem wir waren. Da war ich doch angenehm überrascht, wie wenig dort aus Pappmaché besteht und wie sorgfältig ausgestaltet jede Ecke ist.

Ich hab ja schon nach einem Purzelbaum schlimmen Drehschwindel und so war ich angemessen stolz auf meinen tollkühnen Mut, direkt zu Beginn mit dem kleinen Kind an der Hand dem großen Kind und Monsieur LeGimpsi (sowieso war das unsere intuitiv erfolgreiche Aufteilung im Park: Großes Kind und er, kleines Kind und ich) in ein geschlossenes Gebäude zu folgen und mich in so einen Sitz festschnallen zu lassen, eine 3D-Brille aufzusetzen und dem leicht verunsicherten kleinen Kind gegenüber souveränen Optimismus auszustrahlen. Und boy, did we have fun. Es stellte sich nämlich heraus, dass wir in einer Tortenbäckerei gelandet waren und wir mit munitionsgeladenen Spritzbeuteln Mäuse in die Flucht schlagen mussten während wir auf Schienen von Raum zu Raum sausten. Ganz ohne Loopings. Vergnügungsparks, tihi. Es ist schon ein wenig merkwürdig, einen Haufen Geld zu bezahlen und dann Eintritt zu einer kompletten Künstlichkeit zu erhalten, die einzig zu dem Zweck gestaltet wurde, dass Leute eine endorphinreiche Zeit haben. Und wie gut das Design in diesem Fall ist, wie gut es funktioniert.
Drachenfelsburg ist auch ein schöner Ort.

Das waren schöne vier Tage. Wir hatten eine hohe Quatschigkeit und einen guten Flow. Ich mag diesen Haufen, der wir sind, sehr.
Aber wir saßen auch jeden Tag im Auto und haben viel Geld ausgegeben. Ausflugsdichte Urlaube sind schlecht skalierbar, wir brauchen mittelfristig also eine Mischung. Nächstes Jahr dann. Vielleicht schaffen wir es ja mal, uns vor Mai mit dem Thema zu beschäftigen und können so richtig losplanen.