simple

Ich habe meine Wärmflasche und meine Lichterkette eingepackt, bin in den Zug gestiegen und nach Bremen gefahren. Jetzt sitz ich hier in Bremen hinterm Hauptbahnhof in meinem Zimmer und schaue Schwarzwaldklinik im linearen Fernsehen. Udo Brinkmann hat den Flugschein geschafft, yess! Dass er Flugstunden nimmt, wurde jetzt am Ende der Folge eingeführt, der ganze Handlungsstrang beginnt direkt mit der Flugprüfung, toll wie viel Aufbau und Narrationspotenzial man sich einfach sparen kann. Udo sitzt in einem fliegenden VW Käfer und schaut angestrengt und arrogant wie es nur dem Sohn von Professor Brinkmann zusteht durch seine Sonnenbrille. Der Fluglehrer fragt, es ist sofort klar, das ist nun die Prüfung, auf die wir seit zwei ganzen Minuten hinfiebern, jetzt entscheidet sich alles: Wo befinden wir uns? Udo hebelt sein Kiefergelenk zusammen, schaut seitlich aus dem Fenster, unter sich Felder und ein Dorf. Er ist komplett orientiert, klar, er weiß genau, wo Lunge und Herz sitzen und wie rum man ein Stethoskop hält, er ist dermaßen in control of everything. Er sagt: Bummenshausen-Norderackerlingen. Ist natürlich total richtig und der Prüfer muss zugeben, neben ihm sitzt ein kompetenter Pilot, denn so geht Fliegen. Auf dem Rollfeld warten Professor Brinkmann und seine Frau und Elke und son Typ, dessen Funktion es ist, Udo nach der Landung zuzurufen, ob ers geschafft hat. Ich hab den Schein, schreit Udo und der Typ, der genau neben den anderen steht, dreht sich zu ihnen um und sagt nach einer halben Sekunde Pause, die alles nochmal spannender macht: Er hat den Schein, und Elke weint vor Glück und fährt sich mit den Fingern durchs Haar.

Ansonsten ist es ganz schön hier, alles sehr neblig und suppig. Ich sitze am Fenster und schaue auf den Stadtgraben, den ich erst für die Weser hielt. Meine Lichterkette hat einen Wackelkontakt, aber das macht nichts, denn ich habs innerlich gemütlich. Neben mir liegt Wolle und gleich stricke ich ein bisschen und höre Podcast und dann stehe ich auf und laufe wieder eine Weile durch Bremen. Vielleicht gehe ich in ein Museum oder in ein Café oder beides und am Abend esse ich was Leckeres und dann schaue ich vielleicht nochmal Schwarzwaldklinik oder auch nicht, wer weiß. Vielleicht bleibe ich auch den ganzen Tag hier sitzen und gucke wie das Licht sich nicht verändert und alles wattig vor mir liegt. Das einzige, was ich heute muss, ist zu Rossmann zu gehen und mir Wasser zu kaufen. Und genau so simpel will ich meine Zeit in Bremen haben.

plopp

Eine Mütze für den kleinsten Kopf der Welt gestrickt, bei den Abnahmen Fehler gemacht, naja.

Eine Schiene bekommen, weil ich nachts immer so viel Stress habe und sich mein Kiefer verspannt. Habe morgens beim Aufwachen so nen richtigen Titankiefer, richtig zum Aufstemmen mit so zwei Stemmeisen. Aber mit der neuen Schiene nicht mehr, die sitzt auf den unteren Zähnen und hält beide Parteien schön auf Abstand. Jetzt kann ich nachts ganz in Ruhe Stress haben!

Auf jeden Fall schmeckt Abdruckmasse noch genau so wie in den Neunzigern. Und zum Rausdrücken der festgewordenen Pampe muss die Zahnarztmitarbeiterin immer noch wild an ihnen rumhebeln. Die lösen sich dann mit einem sehr satisfying Plopp und die Luft zischt rein ins Vakuum.

Ein paar Staaten von Amerika ausgewählt nach Farbe: Die blauesten auf eine Liste gesetzt und an die Organisation fürs Auslandsjahr geschickt. Mal gucken, wo das Kind dann landet.

Von einem namentlich nicht weiter erwähnten Menschen mit bundespräsidialer Funktion aus meinem näheren Umfeld auf dem Festnetz angerufen und um Übersetzungsservice gebeten worden. Das Problem, das besprochen wurde: Der Bundespräsident hat gelesen, dass manche automatische Spracherkennung für speech to text bei summa cum laude Teile des Worts cum durch Sonderzeichen ersetzt mit Vermerk auf vulgäre Sprache. Frage nun: Was ist an cum denn jetzt so schlimm, das ist ein ganz normales Wort für uns Lateiner und Asterix und Obelix? Anschlussfrage: Wie kann das sein, dass Maschinen nicht einfach das machen, was der Mensch ihnen reindiktiert?
Während des Entgegennehmens des Anliegens die ganze Zeit gedacht, dass ich mit dem Bundespräsidenten jetzt gleich ein informatives linguistisch-kulturwissenschaftliches Gespräch über Ejakulat führen werde.
Haben uns dann Gott sei Dank bald in eine kontroverse Diskussion über Sprachwandel und Udo Lindenberg gerettet.

prime

Der Mann ist diese Woche weg in Schweden, was ein ausgeprägtes Gefühl des sturmfrei Habens in mir auslöst. Also ich vermisse ihn schon, aber gleichzeitig ist auch mal was anders hier und das ist ja grundsätzlich aufregend und toll. Ich kann jetzt alles allein entscheiden, das Auto verschenken oder einen Hund kaufen, was will er machen.
Als mein Vater Anfang der 00er mal ne Woche mit seiner Tennismannschaft im Urlaub war, haben meine Mutter, meine Geschwister und ich am ersten Morgen beim Frühstück überlegt, wie es wohl wäre, den Teppichboden durch Laminat zu ersetzen. Und nach dem Frühstück haben wir dann direkt den mit der Cousine verheirateten Fußbodenverleger angerufen und am Abend bereits hatte eine Fußballmannschaft rund um den sogenannten Schlachter unser Klavier rausgetragen und das Wohnzimmer war leergeräumt und die Türen ausgehängt, weil uns nachmittags eingefallen war, dass man die ja auch mal weiß lackieren könnte. Danach folgte noch der Laminatkauf bei Obi, wo wir einfach die schönste der günstigen Sorten ausgesucht haben. Wir hatten damals ein Gesamtbudget von TAUSEND Euro, wir hätten also ein ganzes Haus bauen können und mit dem Gefühl sind wir dann auch noch zu Ikea gefahren. Wir vier haben im Entscheidungs- und Sanierungsbereich zusammen sehr viel geschafft in der Woche und als mein Vater nach Hause kam, hatte er an seiner Rückhand gearbeitet, einige Grillteller verputzt und war der neuen Wohnsituation gegenüber positiv eingestellt. Meine Mutter hat seitdem Legendenstatus in getting shit done.

Die eine Tochter war auf Stufenfahrt in Berlin, hat sich eine Woche lang Gentrifizierung angeschaut, sich von Pommes ernährt und ist zwischendrin 16 geworden. Ihre Freundin hat ein Buch voller Briefe gestaltet und ihr um Mitternacht überreicht. Sie hat in den letzten Wochen sämtliche Leute mobilisiert, Deadlines vergeben, nachgefasst, Deadlines freundlich verlängert (in meinem Fall, hat also mit Puffer geplant, diese Weitsicht), die Texte angenommen und aus ihnen ein Buch gebaut. Eigentlich ist sie ready für Projektmanagement von Publikationen und Druckdaten. Und alle haben mitgemacht, Freundinnen und Familie. Das ist schon eine ziemlich sehr besondere Ansammlung von Gedanken: Die Nostalgie von 15jähren umfasst ungefähr die letzten vier Jahre. Die von den Erwachsenen eigentlich ein ganzes Leben. Was die 15jährigen feststellen: Jetzt gerade ist auf jeden Fall prime und alles sollte unbedingt und ohne regret und mit großer Gleichzeitigkeit mitgenommen werden. Die Pandemie findet fast in jedem ihrer Texte statt und ich bin so froh, dass sie damals elf waren und nicht so alt wie jetzt. Wie kann man Dinge ohne regret machen, wenn man anderen nicht näher als 2 Meter kommen kann, wie kann das prime sein.
Der Mann hat ihr einen Satz geschrieben, der hat eine ganz neue Art von Nostalgie in mir ausgelöst, eine zukunftsgerichtete: So lange ich kann. Ich weiß gar nicht genau, wie mein Gefühl dazu heißt, aber es ist da und sehr klar. Als die Töchter noch ein Baby waren, habe ich sie mir als alte Frau vorgestellt, die ihr ganzes Leben schon hinter sich hat. Und mir kam der Gedanke, dass ich sie so nie erleben werde. Ich werd nie wissen, wie die mit 70 oder so aussehen und was sie dann umtreibt. Vielleicht verlieben die sich dann nochmal neu und ich weiß gar nicht, in wen. Oder sie haben ein Problem und niemand löst Probleme so gut wie ich, doch ich bin nicht mehr da. Wär doch schade, wär doch ärgerlich. Aber das dauert ja noch ewig und bis dahin werden die das mit dem einigermaßen vitaminhaltigen Essen und dem Aufräumen wohl schon noch selbst hinkriegen und falls nicht, bekomm ichs ja wenigstens nicht mit. Aber der Mann hats im Brief so geschrieben, dass dieses begrenzte gemeinsame Zeitfenster einfach jetzt schon präsent ist und damn das hat mich in eine zukunftsgerichtete Nostalgie gebracht. Die hat auch Trauerkomponenten und am Ende steckt wie in allem vermutlich die Angst vorm Tod. Ja schön, die Tochter hat primetime und ich such mir schon mal nen Sarg aus oder was.

Stricken ist das Beste von der Welt. Oder häkeln. Dass die Hände sich ständig in so kleinen Schleifen unendlich oft wiederholend bewegen, macht irgendwas mit dem Kopf. Es wird dann plötzlich ganz ruhig und friedlich und schön und die Zeit fließt und der Podcast redet und die Wolle wechselt vom Langen, Dünnen ins Geformte, Gewebte. Solche Nachmittage.

Hab meine Geburtsurkunde nicht mehr gefunden. Kann man aber nachbestellen, die Stadt schickt sie einfach nach Hause. Jetzt fehlt mir nur noch ein Passfoto, aber das ist ein ganz eigenes Problem.

twisted stitches

Und außerdem habe ich vorgestern im Aldi drei Mal meine falsche PIN eingegeben. Seit fünfzehn Jahren oder so habe ich dieselbe PIN und dieselben vier Zahlen und das Eintippen ist reines muscle memory, aber vorgestern im Aldi stand ich vor dem Zahlendings und nach den ersten beiden Ziffern war da so eine interessante Ideenlosigkeit in mir und ich hab eigentlich nur noch geraten. War natürlich falsch und bei der zweiten Runde auch. Die Mitarbeiterin sagte dann zu Beginn der dritten: Letzter Versuch jetzt, und ich hätt auch direkt gehen können eigentlich. Meine Karte war dann sofort gesperrt und ich habs aber trotzdem einfach im Rewe nebenan nochmal probiert. Direkt also nochmal unangenehm. Es war schon spät und die hatten nur noch eine Kasse geöffnet. Ein paar Menschen weiter hinten in der Schlange haben sofort gerufen: Wie viel denn? Aber es war ein Wocheneinkauf und natürlich viel zu viel.
Die Menschen von der Bank haben mir die Karte dann nach dem Einschicken meines Zeigefingers für einen raschen Datenabgleich telefonisch freigegeben und gestern beim Falafelessen habe ich sie vorgehalten und direkt wieder die falsche PIN eingegeben. Was ein ungutes Gefühl auslöste und sich zu einigen anderen unguten Gefühlen in einem inneren überlaufenden Gulli ansammelte. Da ist auch noch die Sache mit der Immatrikulationsbescheinigung von 2004, die ich neuerdings brauche und deren Suche ich seit einigen Wochen schon mit einer größer werdenden Anxiety verdränge. Weil ich sie nicht mehr habe, eigentlich gar keine Unterlagen oder Zeugnisse meines Studiums. Das ergab eine erste Sichtung der naheliegenden Ordner im Flurschrank und auch die immer präsenter werdende Erinnerung an einen kurzen Austausch im Sommer 2015 als wir umzogen und der Mann ausmistete und mich bat einen größeren Haufen bedrucktes Papier zu sichten und ich dachte: Geht leider nicht, wegen kein Bock. Und ich dachte: Wenn da meine Unisachen drin sind, sehen wir uns im Paradies wieder, vorher auf keinen Fall.
Und dann war ich eben erst beim Geldautomaten und habe mit geschlossenen Augen meine PIN eingetippt und alles war richtig und ich habe mir sofort die Zahlen als C-Dur-Töne eingeprägt und jetzt summe ich sie seit zwei Stunden und werde meine PIN nie wieder nicht wissen. Und dann bin ich direkt in den Keller gegangen und habe in vier Kisten geschaut und keine Uniunterlagen gefunden und dann habe ich in die fünfte Kiste geschaut und da waren sie drin: Mein Zeugnis (mit einer drei im Nebenfach wtf) und meine Semesterbescheinigungen und keine Immatrikulationsbescheinigung, aber das wird schon klappen ohne.

Und jetzt gehts mir schon wieder besser und ich weiß, dass ich den ganzen Papierkram für den neuen Job ganz gut ausfüllen und einreichen kann. Der neue Job ist keine Agentur mehr, keine Marketing- und keine Sprachdienstleistungsagentur, sondern gar kein Unternehmen mit gewinnmaximierender Ausrichtung, sondern eine Verwaltung, sondern eine Hochschule. Weil es nämlich komplett beschissen ist, wenn jemand seine Firma verkauft und sie dann an Hände gerät, die alles umstellen, aber in einer richtig unsmarten und planlosen, ich möchte sagen inkompetenten und ignoranten Weise und alles wird anders, aber nichts besser. Und dann gehen die ersten Leute und die zweiten auch und keine Stelle wird nachbesetzt und dann ist man irgendwann nur noch zu dritt und fühlt sich als Kellnerin in nem viel zu vollen Restaurant, aber die Gäste haben alle Sonderwünsche oder nachträgliche Bestellungen oder Stornierungen oder Abstimmungsbedarf am Kartoffelpüree und der Stift schreibt nicht richtig und die Kasse läuft seit dem letzten Serverupdate auch nicht mehr und mit der Küche kann man nur Altgriechisch oder Programmiersprache sprechen und außerdem wird da neuerdings eh nur noch Tütensuppe gekocht. Ich bin traurig und vermisse die alte Firma, denn die Arbeit hat viel Spaß gemacht und die Leute waren toll.

Und dann haben wir heute Morgen mit Lea telefoniert und vorgestern mit Noah und nächste Woche mit Malena und dann nochmal mit Lea. Das sind Leute, die verkaufen ein Jahr im Ausland und wir sind akut interessiert am Erwerb eines Schuljahres in den USA. Denn das große Kind hat ganz frisch entschieden und verkündet, dass es gern ein High School Jahr erleben möchte und zwar im kommenden Schuljahr, im ersten Jahr in der Oberstufe also, und dazu müssen wir genau jetzt nen Zahn zulegen und uns informieren und Fragen stellen und Angebote vergleichen und Zeugnisse übersetzen lassen und Essays schreiben und Bundesstaaten oder Himmelsrichtungen aussuchen und ein Visum beantragen und uns jetzt als allererstes aber mal für eine Organisation entscheiden. Denn so wie es aussieht, sind wir ein bisschen late to the party, aber manchmal weißt du halt Dinge ganz lange nicht und dann plötzlich schon und dabei orientierst du dich nicht unbedingt an timelines von Anbietern von Schuljahren außer Landes. Und ich selbst muss da auch noch ein bisschen reinwachsen in den Gedanken, dass diese Tochter, die schon seit 16 Jahren in meinem Leben ist, bald vielleicht lange nicht hier bei mir sein wird und ganz woanders Dinge macht und Gefühle fühlt und rumlebt, ohne mich halt. Und wenn sie wiederkommt, dann als große, freie Tochter, schon fast auf dem Sprung in wieder eine andere Zeit.

Und mein Neffe ist jetzt ein paar Wochen alt und wenn ich ihn sehe, denke ich, wie viel er noch vor sich hat und seine Eltern auch und wie langsam die Zeit vergeht, wenn man drinsteckt in diesem Pudding mit kleinen Kindern und man sich fragt, wann man wohl mal wieder sowas wie maximale Selbstbestimmung und persönliche Freiheit empfindet. Ich habe ihm einen Pulli gestrickt, von dem ich nicht weiß, ob der Kopf durchpasst. Hab viel gelernt dabei: Ich stricke seit immer linke Maschen falsch, die werden dann zu twisted switches. Das sieht man im oberen Teil des Pullovers und es stört mich sehr, aber nicht so, dass ich alles wieder aufgeribbelt hätte. Das ist neu.

Heute Abend essen wir Bolognese, die sechs Stunden vor sich hingeköchelt haben wird.

Ich bin jetzt vierzig und vierzig ist sehr gut. Be soft and kind but take no shit.

Wir spielen Dialect und haben Reparaturzwang

Mit befreundeten Leuten ein Spiel gespielt, bei dem man gemeinsam Sprache entwickelt. Wir waren Roboter auf dem von Menschen verlassenen Planeten Erde und haben dafür gesorgt, dass er nicht von Aliens übernommen wird und außerdem recht hübsch bleibt, damit die Menschen irgendwann von ihrem Hausrecht Gebrauch machen und zurückkehren können. Leichte Hausmeistertätigkeiten auf 450 EUR-Basis also. Und dabei haben wir unsere eigene Sprache entwickelt, das war der Kern des Spiels. Eine Sprache finden, sie mitzutragen und aktuell zu halten. Hat ganz gut geklappt, ist eine schöne Sprache geworden. schraub schraub heißt Freundschaft, cookie ist ein inspirierter Zustand, Rödelloop der daily grind und ein Drofjør bringt sonntags um 10 Uhr die Leute spirituell zusammen.

Am Ende kamen dann doch noch Aliens vorbei, die hatten Bock auf unsere Energie. Aber wir haben sie ausgetrickst und uns einfach mit ihnen angefreundet, eine Religion gegründet und das weitere Leben im gemeinsamen Rave verbracht. Die Erde gehört jetzt uns.

Was das Spiel zeigt: Zeiten ändern sich, Umstände auch, ist doch klar, dass Sprache gar nicht anders kann, als sich zu wandeln. Sie passt sich den Anforderungen an und bildet Realität ab. Alles andere wäre unpräzise und ineffizient. Das ist bei Robotern so, das ist bei Menschen so.

Ben schreibt über den gemeinsamen Abend und erklärt das Spiel.

Gestrandet

Wir sind hart mit dem Auto liegen geblieben und es war schlimmer als man sich sowas vorstellt und besser als man sich sowas vorstellt. Schlimmer als gedacht war, wie wirklich wenig Bock man auf ein Auto hat, das an der Kreuzung einfach nicht mehr anspringt, nichtmal das Warnblinklicht. Schlimmer als gedacht war, wie viele Kilometer zwischen kaputtem Auto und Zuhause liegen. Schlimmer als gedacht war der Wochentag, nämlich Sonntag mit seinen beschränkten infrastrukturellen Möglichkeiten, und das Wetter, nämlich heiß. Schlimmer war im Vorfeld weder dem ADAC noch sonstigen Versicherungen regelmäßig Wetteinsätze für Pannenfälle und andere Hilflosigkeiten überwiesen zu haben. Schlimmer war wie wenig man mit einem Auto anfangen kann, das einfach komplett aufgegeben hat. Wie lost man sich fühlt, wenn man merkt, dass man keine den Zustand überwindenden Serviceleistungen erwerben kann, die zwar teuer wären, aber sofort verfügbar. Wie kurz alles in einem unklar wird, wenn der ADAC-Mann sagt, das sei jetzt schon echt der worst case und er kann nichts machen und das Auto bleibt jetzt in dieser random Stadt bei Gießen stehen und wenn wir einige Zeit in die eine Himmelsrichtung laufen, kommt irgendwann ein Bahnhof und von dort fährt irgendwann eine Bahn zum nächst größeren Bahnhof und von dort hangelt man sich dann über einen längeren Prozess irgendwie nach Hause. Und wenn wir aber gar nicht vom Fleck kämen, würde er uns nach seinem Feierabend um Mitternacht auch selbst noch kurz zum Zug bringen. Wie sich das Hirn kurz weigert, die Situation als Realität anzunehmen und man es dabei beobachtet, wie es immer wieder vor dieselbe Stelle derselben Wand rennt. Irgendwann zu merken, dass die beiden Fenster vorn im Auto noch unten sind und nichtmal dieses kleine dafür zuständige Knöpfchen funktioniert. Den ADAC noch ein Mal anrufen und ihn bitten, zu kommen und die Überbrückungskabel anzuschließen. Zwei weitere Stunden Wartezeit bis ein Fahrer frei ist.

Besser als gedacht war, an einem heißen Sonntag auf den einzigen schattigen vier Quadratmetern weit und breit liegen zu bleiben, neben einer McDonald’s-Filiale. Satt auch. Besser als gedacht war, keine kleinen Kinder dabei zu haben, sondern große, die Kausalketten verstehen und Bedürfnisse regulieren können. Besser war, eine gerade noch akzeptable Anzahl an Kilometern entfernt vom Abfahrtsort zu sein und dort ein privates Ersatzauto abholen zu können. Glück zu haben, ein Taxi dorthin bezahlen zu können, nicht die dreistündige Fahrt mit den verschiedene Öffentlichen machen zu müssen. Noch mehr Glück, dass das letzte Taxi des Tages gerade noch zu haben war. Glück, dass der ADAC-Mann unser Auto neben eine Werkstatt geschoben hat. Glück, dass es offensichtlich ein Ding ist, kaputte Karren jederzeit vor Werkstätten abzustellen und den Schlüssel dort in den Briefkasten zu werfen. Einfach eine Uploadfunktion am Straßenrand für reparaturbedürftige Gegenstände.
Zu merken, dass es schrittweise immer weiter geht. Sidequest: Wir brauchen einen Stift, um der Werkstatt Infos und unsere Telefonnummer aufzuschreiben. Die Achtjährige hat nur einen vertrockneten Filzstift dabei, die komplette McDonalds‘s-Filiale ist digitalisiert. Aber eine Person leiht uns einen roten Kulli. Wie sehr kann man sich für etwas bedanken. Mission accomplished.
Eine ruhige Ecke finden mit Steckdosen an der Wand. Mein Handy lädt, die Achtjährige spielt, die Vierzehnjährige hat einen Livestream zu ihren Freundinnen, wir essen McFlurry und trinken Wasser und gehen aufs Klo und warten auf Monsieur LeGimpsi mit dem privaten Ersatzauto und den ADAC-Mann, damit unsere Fensterscheiben hochgefahren werden. Den Kindern anbieten, dass sie sich andere Eltern mit heilen Autos aussuchen dürfen hier bei McDonald‘s, aber die winken ab und meinen aktuell kein Bedarf, vielleicht später. Die Kinder beginnen Verhandlungsversuche, ob am nächsten Tag Schule unbedingt nötig sei. Sie machen sich Sorgen um ihr anstehendes Schlafdefizit und unterstreichen die Fahrlässigkeit und Sinnlosigkeit bei akuter Übermüdung am Unterricht teilzunehmen. Diese Ansätze mit Verweis auf Irrelevanz sofort ins Leere laufen lassen, nice try, little suckers. Die Erleichterung irgendwann im anderen Auto zu sitzen, das Gepäck quetschen wir rein, die Kinder auf die Rückbank, los gehts. Langsam wird es dunkel draußen. Die Fahrt ist lang, wir biegen falsch ab, die Fahrt wird länger. Aber wir kommen an und schlafen in unseren Betten und dann ist alles wieder wie immer. Das Gefühl, wenn man etwas hinter sich gelassen hat.

Badminton

Das Beste ist, wie der Körper sich an alte Abläufe erinnert.
Die Beine machen ihre Arbeit, der Schläger trifft, wo er soll, die linke Hand hält warum auch immer die Spannung.

Samstags spiele ich wieder Badminton. So wie früher, so wie in den Neunzigern, meine allererste Sportart. Und der Körper zieht nach dreißig Jahren eine Schublade auf, holt die alte Diskette raus, pustet einmal drüber und installiert 800 Stunden Training ins laufende System. Was natürlich nicht rund läuft, weil aus einem elfjährigen Körper ein neununddreißigjähriger Körper geworden ist und außerdem einige spätere Disketten so ziemlich viel überschrieben haben. Hat auch, glaub ich, öfter mal ins Laufwerk reingeregnet. Erst war Badminton, dann kam Tennis und hat meine Technik irgendwie komisch verschnörkelt und dann kam Volleyball und zieht mich dicht ans Netz. Aber Tennis hat mir auch Genauigkeit für den Treffpunkt des Balls gegeben und Volleyball das Gefühl für den Raum, wenn man sich das Spielfeld mit anderen teilt.

Immer samstags merke ich, ich habe mal etwas gründlich gelernt und gut gekonnt und auch wenn ich es eine Ewigkeit nicht angeschaut habe, es ist noch in mir und wenn ich will, kann ich mit ihm spielen. Es ist ein ganz verrücktes, interessantes Gefühl. Es ist, als hätte ich eine alte Spardose mit meinem Taschengeld gefunden und es gehört auf magische Weise noch mir und die Frau in der Bäckerei nimmt tatsächlich auch D-Mark und gibt mir zuckerhaltige Konsumgüter dafür. Es ist völlig nutzlos und macht so viel Spaß. Ich bin froh, dass ich viele vorpubertäre Montage und Freitage damit verbracht habe, hinter Federbällen her zu rennen und sie möglichst effizient mit einem Schläger zu treffen.

Ich kann immer noch den Ball mit dem Schläger vom Boden aufheben und das ist das beste Gefühl. Auch das beste Gefühl ist Techniktraining. Wenn wir immer wieder dieselben Schläge üben. Wenn man fünfzigmal einen kurzen Ball hinterm Netz mit der Rückhand lang nach hinten schlägt. Wie sich nach den ersten Bällen direkt ein Rhythmus einstellt und man einfach nur ein Körper ist, der immer dieselben Bewegungsabläufe wiederholt. Drei seitliche Schritte nach vorn, Ausfallschritt, mit dem Handgelenk zugreifen, nach oben ziehen, ich setze immer zu viel Arm ein, den Ball hoch und weit rausschlagen, drei seitliche Schritte zurück in die Mitte und direkt wieder zurück ans Netz. Wie der Kopf ganz leer wird und man nur noch atmet und läuft und schlägt. Wie schön Badmintonbälle fliegen, wenn man sie trifft. Wie schön eine Halle mit acht Feldern klingt, wenn alle dasselbe üben. Das beste Gefühl ist, einen Trainer zu haben, der Ansagen macht und korrigiert und regelt, wer mit wem spielt, wann gewechselt wird, wann getrunken, was trainiert, wer gegen wen. Der einfach alles vorgibt in einer klaren, zugewandten Art. Jetzt Drops machen, jetzt dreimal lang, zweimal kurz, jetzt die Bälle ausspielen, jetzt Taktiktraining. Ich gehe samstags dahin und mache das nur für mich. Ich bin nicht Teil einer Mannschaft, muss nicht gut fürs Team spielen, niemand erwartet irgendwas, meine Fehler interessieren keinen. Das beste ist, mit immer jemand anderem Doppel oder Mixed zu spielen. Immer wieder mit einer neuen Person rauszufinden, wie man sich organisiert, immer wieder neu zu gucken, wie gut die Raumverteilung klappt. Manche sind ganz lange dabei, manche noch ganz neu. Eine beißt immer zwischendurch in ihr Brötchen, neben dem Brötchen liegen Karotten und Äpfel, eine ganze Brotdose voll, so eine Art von Training ist das. Da sind Leute, die wollen einfach ein bisschen spielen und wenn man dabei auch mal gewinnt, ist das recht erfreulich, aber nicht entscheidend. Was auch stimmt: Wer am Samstagvormittag in der Halle steht, hat Bock.

Eigentlich spiele ich vor allem gegen mich. Gegen meine Erinnerung, wie es früher einmal war. Wie viel Kondition ich mal hatte, wie schnell meine Reaktion war und wie hart die Schmetterbälle. Wie die Schulter noch nicht weh tat und ich noch besser sehen konnte. Selbst wenn ich mich jetzt richtig reinhängen würde, käme ich da nicht mehr hin. Aber das ist ok, Akzeptanz wird mittrainiert.
Das beste Gefühl ist, meinen alten Schläger von damals, meinen blauen Schläger aus einem Guss, mit der Bespannung von damals, die ich nach jedem Ballwechsel zurechtziehen muss, in der Hand zu halten und die Person von jetzt zu sein.

Im magic loop

Guter Urlaubszustand im Kopf, ich habe wie immer in dieser Zeit die Kontrolle über die verinnerlichte Dauer von wiederkehrenden Intervallen, zum Beispiel Tagen, verloren. Alles eine Suppe gerade. Anfang der Woche haben wir den Keller ausgemistet und einen kleinen Haufen Sperrmüll identifiziert. Weil wir so gut im Anpackenmodus waren, haben wir uns direkt gekümmert, dass er mit bürokratischem Aufwand abgeholt wird.

Die Stadtverwaltungsfrau: Der nächste freie Termin wäre am dritten Januar.
Mein Gehirn: Oh super, das ist ja direkt morgen!
Ich: Oh super, das ist ja direkt morgen!
Die Stadtverwaltungsfrau: Der dritte Januar ist nächste Woche Dienstag.
Ich: Oh shit, Silvester war ja noch gar nicht.
Die Stadtverwaltungsfrau: Jep.

Im Moment stricke ich viel und zum ersten Mal sind es keine rechteckigen Gewebe aus rechten Maschen, die man auch Decken für winzige Menschen nennen könnte, sondern dreidimensionale Hohlkörper aus rechten Maschen, die man Socken oder Pulswärmer nennen könnte. Dazu schaue ich fachliterarische Videos aus der Knitting-Branche. Und dann habe ich plötzlich meine Haare geschnitten. Ich mach das seit ein paar Jahren immer selbst, mein Opa hat vor dem Zweiten Weltkrieg für ungefähr einen halben Tag als Friseur für Frauen- und Männerköpfe gearbeitet und so schwer kann das ja wohl nicht sein. Normalerweise geht es ganz gut, wenn ich Haarpartien waagerecht vom Kopf weghalte und denn absäbele. So entstehen unter Nutzung von Geometrie dann leichte Stufen. Am Ende mache ich einen Zopf und schnippele noch ein wenig in die Spitzen rein, das sorgt dann dafür, dass alles gleichmäßig schief aussieht. Das klappt hinlänglich erfolgreich, wenn man ungefähr vier Zentimeter kürzen möchte. Ich aber wollte einen völlig neuen Look. Und so hab ich dann einfach drauf losgeschnitten mit meiner alten Küchenschere und schon bei der ersten Strähne vorn links dachte ich: Oh shit, oh fuck, fuck me. Ist immer auch schön zu merken, wie Selbstwirksamkeit reinkickt, auch mal anders als erhofft. Aber ich habs durchgezogen und was soll ich sagen? Es ist absolut dilettantisch geworden und wie schwierig ist es, am eigenen Hinterkopf irgendwas planvolles zu veranstalten, aber unterm Strich regeln meine ein bisschen lockigen Haare das jetzt. Und außerdem kommts eh immer nur auf die innere Haltung zu den Dingen an. Man kann sich mit viel mehr durchs Leben bullshitten als man so denkt.

Es gibt nun ein Schlagzeug in dieser Wohnung. Das große Kind hat es ins Zimmer gequetscht und trommelt seither eigentlich ununterbrochen Linkin Park, was interessant klingt, weil sich klangmäßig alles in Kopfhörern abspielt, bei uns kommt nur die ganze Energie und Dramatik an, mit der rumgekloppt wird. Damit es reinpasst, haben wir ein paar Möbel gestapelt. Das Zimmer besteht nun eigentlich nur noch aus gedrungenen Gruppierungen von essenziell notwendigen Einrichtungsgegenständen, Duftkerzen (es ist eine Phase) und einem raumfordernden Musikinstrument.

Das kleine Kind kann nun schwimmen, somit habe ich alle elterlichen Pflichten erfüllt und verabschiede mich nun langsam in die Phase, in der man nur noch auf Enkelkinder wartet.
Wir haben einen Schwimmkurs gemacht und nachdem es eine Zeit lang ein wenig stagnierte und die Hemmschwelle überwunden werden musste, das Schwimmbrett abzugeben und Arm- und Beinbewegungen zu synchronisieren, hat es dann innerhalb von zwanzig Minuten plötzlich sehr beeindruckend so gut geklappt, dass auch der Korkengurt immer weiter auseinandergebaut und dann nicht mehr gebraucht wurde und sie einfach schwimmen konnte. Und wie eine kleine Berserkerin mit maximalem Körperseinsatz vom Rand, vom Startblock, vom Ein-Meter-Brett und vom Drei-Meter-Turm ins Wasser flog. Ich bin so froh, bei dieser Entwicklung dabeigewesen zu sein und freue mich schon, ihr diese Geschichte über Durchhalten und sich Unbekanntem aussetzen und den dahinterliegenden winkenden Spaß im Blick haben in den verschiedenen frustrierenden Phasen ihres Lebens erzählen zu können.
Gestern war ich mit ihr im Schwimmbad und nachdem wir ein wenig geschwommen waren, hat sie eine kleine Wasserbekanntschaft mit einem anderen Kind gemacht und ich hab mich auf die Wärmebank verkrümelt und die beiden in Ruhe ihre Unterwasserabenteuer durchspielen lassen. Da saß ich dann und es war warm und akustisch diffus und gedämpft und es roch nach Chlor und um mich herum sich bewegende Wasseroberflächen und ich trocknete vor mich hin und hatte nichts dabei, in das ich meinen Blick senken könnte, alles im Spind. Und so saß ich dann und verfiel in einen meditativen Zustand der temporären Mittellosigkeit und schaute einfach nur den Kindern zu und war frei von Gedanken.

Work, work, work

Morgen ist der 23. Dezember and I’m still working. Das gabs noch nie, normalerweise ist bei mir Mitte Dezember Schluss und ich fall in einen vorweihnachtlichen Modus der maximalen Passivität, der nur noch zulässt, in eine Decke gewickelt an die tausend Stücke dünner Presspappe so lange ineinanderzustecken, bis es einigermaßen passt und hübsch aussieht und dabei abmoderierende Grunzlaute von mir zu geben, wenn sich jemand nähert oder mich anspricht. Aber dieses Jahr nicht, oh no, dieses Jahr wird durchgearbeitet bis Mariah Careys Lieblingstag anbricht und außerdem Samstag ist. Was erstaunlich okay ist? Was mich daran denken lässt, dass eine Lektorin beim früheren Arbeitsplatz immer wollte, dass wir im Heft okay mit o.k. abkürzen, was schrecklich aussieht. Und was ich nie gemacht habe.
Jedenfalls habe ich in den letzten Monaten viel gearbeitet und viel über mich gelernt und viel übers Arbeiten gelernt. Ich habe mit dem neuen Job eine Arbeit erwischt, die aus einer Aneinanderreihung und Verschachtelung unendlich vieler wohlproportionierter Tätigkeiten besteht, die alle mittlerweile vertraut sind, aber immer auch ein wenig neuartig und sparkly. Es passiert ständig irgendetwas, das ich anklicken muss. Oder prüfen oder anfragen oder vorbereiten oder nachbereiten oder liefern oder annehmen oder beauftragen oder abnehmen oder sperren oder bestätigen und aktualisieren oder bestätigen ohne zu aktualisieren oder auswählen oder rückmelden oder durchdenken oder planen oder anbieten oder analysieren oder abschließen. Immer müssen Lösungen her und wenn ein Problem platt gemacht wurde, kommt schon das nächste. Was aber gut ist: Alle Probleme sind immer lösbar und mittlerweile weiß ich das auch und kenne mich schon ganz gut aus und darum passieren hormonell interessante Dinge. Dauernd die Schublade aufziehen zu können, sich ein kleines gut handelbares Problem rauszunehmen, es zu betrachten, zu lösen und wieder zurückzulegen, lässt das Dopamin nur so plätschern und ein angenehmer Flow stellt sich ein. Also an mittleren bis guten Tagen.

Ich arbeite in der language industry. In der language industry arbeiten eigentlich nur Drinnies. Übersetzer*innen und Lektor*innen sind Leute, die graben sich ein in Texte und Recherchen und Kommentare und Terminologien und Konsistenzen und Fachgebiete und Styleguides und Corporate Wordings und Dudenauflagen. Die wollen nicht am Telefon sprechen, die wollen ne Mail bekommen und ihre Ruhe haben. Die sind freiberuflich und sind schon im Ruhestand oder noch im Studium oder auf Weltreise oder in Elternzeit. Die reagieren auf Jobanfragen manchmal auch sehr aus dem Inneren heraus. Wenn sie lange nicht beauftragt wurden und es gerade schwer ist mit dem Geld. Oder wenn sie ihre Deadline nicht halten können, weil ihre Mutter ins Krankenhaus musste. Die Mutter von ihnen ist oft im Koma. Überdurchschnittlich häufig habe ich den Satz „meine Mutter ist leider ins Koma gefallen, kann ich den Text eine halbe Stunde später liefern“ gelesen im letzten halben Jahr. Das ist ok, ja klaro geht das. Einer hat mir geschrieben, dass es ihm emotional nicht gut gehe und sich eine schlimme Krise entwickelt habe am Morgen und er lieber zum Arzt will, statt zu übersetzen. Das ist doch ganz klar. Es ist selten, aber es kommt vor und ich mag, wie sie mir als Auftraggeberin zeigen, dass ihr Leben vorgeht und dass sie darauf vertrauen, dass es unsere Arbeitsbeziehung nicht stört. Aber auch schöne Dinge werden geteilt, Hochzeitsfotos. Ich habe ein Hochzeitsbild gesehen, da hat unser Übersetzer in Polen seine Frau geheiratet, mit der er nach Mexiko zieht und seine Mutter schaut so unglaublich mies gelaunt aus. Die Mutter von Leuten in der language industry, ich bekomme ungewöhnlich viel von ihr mit. Einer hat ein Lama gestreichelt und direkt ein Bild gesendet, jemand denkt sich privat gern Musikrätsel aus, schickt sie an einen riesigen Verteiler mit beruflichen Kontakten und verlost dann Gewinne. Aber allerallermeistens liefern sie einfach nur sehr gründlich und zuverlässig ab. Und fischen tonnenweise Rechtschreibfehler aus Ausgangstexten raus, nebenbei als Service. Ich mag die Menschen der language industry.
Hier erhält man einen kleinen Einblick, wie sie arbeiten und wie eine Übersetzung entsteht.

Der Urlaub war super, wir haben ihn abgebrochen

Wir haben Ende Mai gedacht, wir brauchen im Sommer außerhäuslichen Urlaub und haben geschaut, wo noch was frei war. Und vielleicht liegt da schon der Fehler. Bzw. fängt da schon unsere verhaltensauffällige Beziehung zu Urlaub an. Warum fällt uns das mit dem Urlaub immer erst zehn Minuten vor Abreise ein? Und dann müssen wir hektisch Airbnb durchwühlen und ärgern uns, dass schon alles ausgebucht ist. Warum können wir das nicht wie andere Leute schon im Winter vorher oder so erledigen?
Wobei, es war anders, wir haben geschaut, was noch wo frei war. Also was war wichtiger als wo. Eine Behausung mit Garten sollte es sein und ruhig. Und gern so groß, dass die Kinder in richtigen Betten schlafen und nicht im Wohnzimmer auf dem Sofa, das man dann jeden Tag umbauen muss. Wir haben auch was gefunden, sogar in neu, alles frisch renoviert und mit schönen Tellern, Tassen und Löffeln ausgestattet und das Waschbecken im Bad war auch sehr hübsch. Und sogar nicht in Doitschland gelegen und trotzdem recht fußläufig am Ende der A2. Wir haben uns sehr drauf gefreut und unser kleines Auto ganz voll gepackt und auch die Sommerreifen noch schnell draufgezogen. Und dann waren wir da und die Sonne schien und der Badesee war auf der einen Seite etwas klein, aber wenn man durch ein kleines Wäldchen ging, kam man an der anderen Seite raus, am Campingplatz, und da wars schön und da war nichts los und da gabs Schwäne, auf denen man über den See strampeln konnte. Das haben das große Kind und ich übernommen, hinten saßen die anderen beiden und haben entweder Stress gemacht wegen Haien oder wegen zu großer Langsamkeit.

Und dann sind wir ein paar Tage lang zum See gegangen und durch die Gegend gelaufen und waren im Supermarkt und im Garten und haben gegrillt und Cornflakes zu Kinderfernsehen gegessen und lagen rum und haben gelesen und mit Bällen und Ballsportgeräten gespielt und haben mit einem Gasherd gekocht und in heißen Zimmern unterm Dach geschlafen und dann hats uns allen gereicht und wir haben nach vier statt nach sieben Nächten unsere Sachen gepackt, aufgeräumt, sauber gemacht, das Auto beladen und sind nach Hause gefahren. Und wenn man dann dort ankommt und alles wieder auspackt und verräumt und wäscht (kaum schmutzige Wäsche natürlich) und dann fertig ist, fühlt es sich an, als habe man ein paar Bonustage geschenkt bekommen und gleichzeitig fragt man sich, ob man den größten Knall von allen hat. Dass man die Tage im Jahr, an denen man woanders sein kann und dafür ja auch viel Mühe und Mittel investiert hat, verschwendet, weil man sie nicht voll ausschöpft, sondern nur bis zu dem Moment, an dem es eben reicht. An dem man merkt, es zieht einen wieder nach Hause, wo alles ist, was man braucht und mag. Wo Spielsachen und Bücher und Spiele und eine eigene Zimmertür dafür sorgen, dass schlechtes Wetter komplett egal ist und gutes auch. Wo man einfach nichts machen muss, anders als an den allermeisten Tagen im Jahr. Nur sein.

Es ist ein bisschen so, wie eine top Pizza vom Lord aller Pizzen serviert zu bekommen und dann nach der Hälfte, die wirklich gut war, eine wirklich außergewöhnlich schön gemachte Pizza, zu merken, dass der Hunger weg ist und es eigentlich reicht. Und dann einfach aufhört, sich bedankt und geht. Klingt doch eigentlich ganz gut. Klingt ja fast schon nach achtsamer Urlaubsführung.