Überm Wählerverzeichnis
Gestern war Europawahl und ich habe mitgeholfen. Als stellvertretende Schriftführerin ist es doch wesentlich anstrengender, als ich dachte. Und es gibt auch gar nicht so richtig ausgeklügelte Prozesse bei der Annahme von Wahlbenachrichtigungen und Prüfung des Wählerverzeichnisses und Ausgabe von Stimmzetteln und Abgabe des Wählerwillens und die Wahrscheinlichkeit, dass dabei an irgendeiner Stelle Fehler passieren, ist ziemlich hoch. Aber unser Wahllokalteam hat sein allerbestes gegeben und so stimmten am Ende die Zahlen und es gab keine Ungereimtheiten und erneut zählen mussten wir auch nicht und so war alles vor 20 Uhr fertig und eingetütet und versiegelt und ich stand kurze Zeit später in der Dönerbude und war sehr kaputt und hungrig und fröhlich.
Im Grunde ist Schriftführerin bei demokratischen Wahlen sein ein richtig guter Job für jeden Tag. Man hat mit Menschen zu tun, die freiwillig eine bedeutungsvolle und ein bisschen aufregende Handlung zielgerichtet ausführen möchten und unterstützt sie dabei. Entsprechend freundlich begegnen einem die Leute, die vermutlich alle froh sind, nicht auf meinem Platz sitzen zu müssen. Wenn sie wüssten. All the fun.
Dabei ist zugewandtes, verbindliches Auftreten von Vorteil, um der ganzen Veranstaltung einen möglichst angemessen würdevollen Rahmen zu verpassen. Und dann stellt sich sehr schnell ein Flow ein, weil man mitten in der Schaltzentrale sitzt. Man ist die Schaltzentrale.
Ein Wahlteam besteht bis zum Wahlschluss aus mindestens drei anwesenden Personen, von denen einer die Wahlbenachrichtungen annimmt, einer die Stimmzettel austeilt und die Wahlurne freigibt und einer den ganzen Rest macht, der darin besteht, an ziemlich vielen Stellen gleichzeitig im Wählerverzeichnis rumzuschrauben. Während die anderen bei erhöhtem Wahlaufkommen einfach ihre Handbewegungen nach oben skalieren, muss der eine, der das Verzeichnis beackert, sich gut konzentrieren, um den Überblick nicht zu verlieren. Da würde ich die Prozesse schon gern optimieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das nicht eleganter und weniger fehleranfällig geht und man nicht irgendwelche Synergieeffekte nutzen kann.
Wie sehr ich diesen Wahlbezirk mochte. Der war stabil. Und wie darin gewählt wurde. Auch ganz stabil. Fast 40 Prozent Grüne, fast so viel PARTEI wie CDU, kaum FDP, kaum Naziparteien. Beim Auszählen hat man die grüne Überlegenheit gut sehen können und das war ein sehr beeindruckender Anblick. Ich habe den Grünen-Stapel zum Zählen auf den Tisch gehoben, ich hatte auch Stapel der SPD und FDP in den Händen. Und von kleineren Parteien mit nur einstelligem Ergebnis. Die Grünen waren ein Brocken. Richtig dicker Oschi. Das hatte ich so nicht erwartet, das war neu. Es tat sehr gut.
Und ich weiß ja, wer die Leute waren, die diese Stimmen abgegeben hatten. Ich weiß ja, in welchem Bezirk sie leben. Eher härtere Bedingungen dort. Eher wenig Spielräume. Eher keine Privilegien. Als wir am Ende alle Stimmzettel sortiert hatten, meinte eine Wahlhelferin: „Wir wissen zwar nicht, wer was gewählt hat, aber wir wissen, niemand hat die NPD gewählt.“ Keiner hat sich für Hass entschieden.
Ja. Dort wo ich wohne, wo Kopfsteinpflaster und Fachwerkhäuser und alter Baumbestand die Gegend schön machen, wo viele ältere Leute in neuen BMWs rumfahren und ihre Bettdeckenfüllungen in Fachgeschäften in Einzellage auffrischen, haben mehr Menschen Nazis gewählt.
[…] Wieder Wahlhelferin gewesen und damit Ehrenschulden bei der Landesregierung eingelöst, die mich schon im Juni geimpft hat, als es sich so anfühlte, als dauere das mit dem Impfangebot für alle noch unerreichbar lange. Ich weiß noch, dass ich ein schlechtes Gewissen und lange überlegt hatte, ob es in Ordnung ist, mich als gesunder, junger Mensch impfen zu lassen, obwohl meine Zeit noch nicht gekommen war. Und ich dadurch ja Vorteile für mich beanspruche, die eindeutig zum Nachteil der Personen sind, die vor mir auf der Warteliste stehen. Aber andererseits war ich im Juni an einem very dark place angekommen, was die Produktion und Akkumulation von Angst vor dieser Krankheit anbelangt. Ich habe die Zeit zwischen November und Juni als großen Kontrollverlust wahrgenommen: Einerseits hab ich mich selbst so gut wie möglich isoliert und ununterbrochen vernünftige Entscheidungen getroffen. Andererseits wusste ich, dass unsere Kinder in Kita, Schule und Straßenbahn jeden Tag unvermeidbar viele soziale Kontakte haben und wir auch als strengste Coronaeltern der Welt da nicht viel machen konnten. Nun ja, die Tatsache, dass 75 Prozent unseres Haushalts nun einen sehr guten Schutz haben, hat ein paar blockierte Hintertüren in meinem Kopf geöffnet und die Angst ist in den letzten Wochen sehr gut aus mir rausgeflossen. Jedenfalls Bundestagswahl. Dabei lustige Vorkommnisse erlebt: Wirklich viele Personen hatten Schwierigkeiten beim Falten des Stimmzettels. Das sah am Ende dann so aus wie beim derzeitigen Wahlverlierer und weil wir gute Wahlhelfende waren und Artikel 38 des Grundgesetzes ehren, haben wir die dann zurück in ihre Kabine geschickt, damit sie nochmal neu falten konnten. Manche haben ihren Stimmzettel auch direkt vor uns komplett auseinandergefaltet, das hat dann immer zu reflexhaft schmerzvollem Aufstöhnen und Abschirmen der Augen mit beiden Händen unsererseits geführt. Wie so Vampire, die zur falschen Uhrzeit die Gardinen aufschieben. All the Drama, aber das war es Wert. Hab kein Kreuz erkannt, das Grundgesetz wurde nicht kompromittiert. Ein Typ hat sich in der Wahlkabine einen Papercut zugezogen und stand dann mit komplett blutverschmiertem Stimmzettel vor uns. Haben dann überlegt, dass da jetzt schon sehr viel sichtbare DNA drauf gelandet ist und wir auch hier leider auf den Schutz des Wahlgeheimnisses bestehen müssen. Hat er dann eingesehen, den Stimmzettel zerrissen, Erstversorgung erhalten und neu gestimmt.Eine Frau stand mit ihrem Personalausweis vor mir und meinte, dass ihr Kleinkind ihre Briefwahlunterlagen gegessen habe, ob sie jetzt in der Kabine wählen kann. Also bei Briefwahlunterlagen ist es so: Man kann die vor der Wahl anfordern. Dann bekommt man einen Wahlschein und einen Stimmzettel nach Hause geschickt und dann nimmt man halt per Briefwahl teil. Man kann aber auch am Wahltag in irgendein Wahllokal innerhalb des Wahlkreises laufen und dort dann wählen. Dazu muss man den Wahlschein vorzeigen, der wird dann einbehalten, den Stimmzettel zerreißen und in der Kabine auf einem neuen Stimmzettel die Kreuze machen. Logisch. Ohne diese Unterlagen gehts dann halt aber nicht. Und so wars bei der Frau leider auch. Naja, ansonsten ist es ein eher ruhiger Tag in unserem Wahlraum gewesen. Irgendwie macht mir diese Arbeit Freude. Überwiegend angenehmen Leuten begegnen, aufpassen, das Wahlregister sauberhalten und am Ende alles zählen, protokollieren, melden und verräumen. Bald ist Landtagswahl. […]