Zweite Herbstferienwoche

Letzte Woche hatte ich Urlaub, das war sehr gut verbrachte Zeit. Monsieur LeGimpsi fuhr zur Arbeit, die kleine Tochter war zwei Nächte bei der Oma, die große vormittags beim Theaterworkshop: Ich hatte viel Zeit für mich und für meine Verhältnisse war ich ziemlich rege.
Also erstmal bin ich viel Straßenbahn gefahren. Vor Corona war das mein tägliches Hauptverkehrsmittel, seit ich zu Hause arbeite, sitze ich nur noch selten in diesem komischen Blechwurm, der sich durch die Stadt schlängelt. Diese Woche war ich andauernd mit der Bahn unterwegs und wie neuerdings immer, wenn geschlossene Räume, Leute und ich aufeinandertreffen, fühle ich mich nicht besonders wohl, irgendwie unterschwellig bedroht. Hm.

Ich hatte zum ersten Mal eine professionelle Zahnreinigung. Also ich achte in meinem restlichen Leben voll auf maximal gründliches Amateurinnenputzen, darum war diese Behandlung auf meiner Prioliste immer sehr weit unten. Stellt sich raus: Das ist ja ungefähr das beste, was man machen kann! Hätte ich das vorher gewusst. Meine Zähne sind so super zahnsteinfrei und blankpoliert jetzt, das gibts gar nicht. Ich habe sogar eine winzige Lücke zwischen meinen unteren Schneidezähnen rausgefräst bekommen. Das Mundgefühl ist völlig neu.

Und dann hatte ich noch zwei schöne Spaziergänge mit Freundinnen. Meine Erhebung der Gesprächsthemen zeigt: 100 Prozent der Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sind ebenso wie ich in beruflich nervig-anstrengender Lage. Vielleicht ist es ein Lebensabschnittsthema, vielleicht ist die zweite Hälfte der Dreißiger einfach arbeitsmäßig kacke.

Ich schaue viel Emma Chamberlain im Moment. Ich mag die evolving-Videos alle echt gern. Die haben editing-mäßig ein wenig was von Casey Neistat. Es wirkt, als führe Emma ein komplett isoliertes, abgeschnittenes Leben quasi vom Bett aus. Aber selbst wenn sie sich durch öffentlichen Raum bewegt, kommt es mir vor, als sei sie der einzige Mensch auf dem Planeten. Schlimm ist hingegen, dass sie quasi ununterbrochen ungewaschene Blaubeeren isst.
Jedenfalls trinkt Emma ungefähr tausend Iced Latte am Tag und darum hab ich das auch mal probiert und ich muss sagen: Zu Recht, es schmeckt super. Geht ganz einfach und ist bei mir koffeinfrei: eine Handvoll Eiswürfel, 150 ml Hafermilch, 1 TL Ahornsirup, 1 (koffeinfreier) Espresso. Alles aufeinanderkippen, umrühren, nachhaltiger Strohhalm rein, yay.

Ich hab mich mit den boys von der Antifa getroffen. Wir haben mit Planungen begonnen, wie man Nazis den nächsten Wahlkampf schwerer machen kann. Ich hatte selten mit so freundlichen, aufmerksamen und wenig dominierenden Mitmenschen zu tun. Das war sehr angenehm.

Mitte Oktober sind zwei Babys von super Leuten geboren. Ich hab was eckiges, kraus rechtes gestrickt und auf den Weg geschickt. Einmal in den Westen, einmal in den Süden. Wie immer ein großer Spaß.
Alles Gute für euch, lieber J und lieber P. Komische Welt, auf der ihr gelandet seid, aber gut, müsst ihr selbst wissen. Wobei dieses Gespräch zwischen Nicolas Semak und Frank Schätzing irgendwie Mut macht und Hoffnung gibt, dass vielleicht doch nicht alles nur scheiße wird. Vielleicht kriegen wir alle miteinander noch die Kurve.

Und dann ist was verrücktes passiert: Wir haben plötzlich Zugriff auf einen Garten. Mit eigenem Schlüssel! Es handelt sich um 240 qm Grabeland ohne Strom und Wasser, dafür mit verschimmelter Hütte. Wir können über Grünstreifen mit dem Fahrrad hinfahren und haben bereits sehr viele Himbeerpflanzen als Sichtschutz gepflanzt. Es sind noch einige andere mit dabei und mal gucken, wie das so wird. Vielleicht echt ganz gut.

Und einen cuten Igel getroffen. War ne gute Woche, bald ist Weihnachten.

Wählen

Wieder Wahlhelferin gewesen und damit Ehrenschulden bei der Landesregierung eingelöst, die mich schon im Juni geimpft hat, als es sich so anfühlte, als dauere das mit dem Impfangebot für alle noch unerreichbar lange. Ich weiß noch, dass ich ein schlechtes Gewissen und lange überlegt hatte, ob es in Ordnung ist, mich als gesunder, junger Mensch impfen zu lassen, obwohl meine Zeit noch nicht gekommen war. Und ich dadurch ja Vorteile für mich beanspruche, die eindeutig zum Nachteil der Personen sind, die vor mir auf der Warteliste stehen. Aber andererseits war ich im Juni an einem very dark place angekommen, was die Produktion und Akkumulation von Angst vor dieser Krankheit anbelangt. Ich habe die Zeit zwischen November und Juni als großen Kontrollverlust wahrgenommen: Einerseits hab ich mich selbst so gut wie möglich isoliert und ununterbrochen vernünftige Entscheidungen getroffen. Andererseits wusste ich, dass unsere Kinder in Kita, Schule und Straßenbahn jeden Tag unvermeidbar viele soziale Kontakte haben und wir auch als strengste Coronaeltern der Welt da nicht viel machen konnten. Nun ja, die Tatsache, dass 75 Prozent unseres Haushalts nun einen sehr guten Schutz haben, hat ein paar blockierte Hintertüren in meinem Kopf geöffnet und die Angst ist in den letzten Wochen sehr gut aus mir rausgeflossen. Jedenfalls Bundestagswahl.
Dabei lustige Vorkommnisse erlebt: Wirklich viele Personen hatten Schwierigkeiten beim Falten des Stimmzettels. Das sah am Ende dann so aus wie beim derzeitigen Wahlverlierer und weil wir gute Wahlhelfende waren und Artikel 38 des Grundgesetzes ehren, haben wir die dann zurück in ihre Kabine geschickt, damit sie nochmal neu falten konnten. Manche haben ihren Stimmzettel auch direkt vor uns komplett auseinandergefaltet, das hat dann immer zu reflexhaft schmerzvollem Aufstöhnen und Abschirmen der Augen mit beiden Händen unsererseits geführt. Wie so Vampire, die zur falschen Uhrzeit die Gardinen aufschieben. All the Drama, aber das war es Wert. Hab kein Kreuz erkannt, das Grundgesetz wurde nicht kompromittiert.
Ein Typ hat sich in der Wahlkabine einen Papercut zugezogen und stand dann mit komplett blutverschmiertem Stimmzettel vor uns. Haben dann überlegt, dass da jetzt schon sehr viel sichtbare DNA drauf gelandet ist und wir auch hier leider auf den Schutz des Wahlgeheimnisses bestehen müssen. Hat er dann eingesehen, den Stimmzettel zerrissen, Erstversorgung erhalten und neu gestimmt.
Eine Frau stand mit ihrem Personalausweis vor mir und meinte, dass ihr Kleinkind ihre Briefwahlunterlagen gegessen habe, ob sie jetzt in der Kabine wählen kann. Also bei Briefwahlunterlagen ist es so: Man kann die vor der Wahl anfordern. Dann bekommt man einen Wahlschein und einen Stimmzettel nach Hause geschickt und dann nimmt man halt per Briefwahl teil. Man kann aber auch am Wahltag in irgendein Wahllokal innerhalb des Wahlkreises laufen und dort dann wählen. Dazu muss man den Wahlschein vorzeigen, der wird dann einbehalten, den Stimmzettel zerreißen und in der Kabine auf einem neuen Stimmzettel die Kreuze machen. Logisch. Ohne diese Unterlagen gehts dann halt aber nicht. Und so wars bei der Frau leider auch.
Naja, ansonsten ist es ein eher ruhiger Tag in unserem Wahlraum gewesen. Irgendwie macht mir diese Arbeit Freude. Überwiegend angenehmen Leuten begegnen, aufpassen, das Wahlregister sauberhalten und am Ende alles zählen, protokollieren, melden und verräumen. Bald ist Landtagswahl.

90 minutes well spent (FCK AFD)

Heute habe ich etwas sehr ungewöhnliches gemacht: Es war spontan und neu. Das ist eine Kombi, die kommt in meinem Leben so gut wie nie vor.
Wir wohnen hier direkt neben einem Kirchplatz. Dazu gehört auch eine Kirche, sogar die älteste der Stadt. Und weil sich darin kunsthistorische Schätze befinden, wird sie innen bewacht von Ehrenamtlichen. Und wenn man die Kirche besucht und sie sich anschaut, bekommen die begleitenden Kinder am Ende immer Süßigkeiten angeboten. Wir sind sehr oft in der Kirche. Die kleine Tochter hat für eine ungetaufte Atheistin ein außergewöhnlich großes Interesse an religiösem Interior Design. Fun fact: Der Kirchplatz war vor einigen Jahrhunderten der Ort, an dem die Verstorbenen bestattet wurden. Man läuft also quasi unterm Kopfsteinpflaster direkt über christliche Skelette. Creeps.
Jedenfalls ist samstags immer Markt direkt neben unserer Haustür. Und wenn Wahlkampf ist, stehen dort oft auch ein paar Parteien mit ihren Ständen. Und heute zum ersten Mal in dieser aktuellen Wahlkampfsaison auch die AfD. Ich hab morgens also über Twitter erfahren, dass da so Faschos ihre Scheiße spreaden, glaube, das ist der korrekte wissenschaftliche Ausdruck, und weil ich die letzten Jahre dann immer so eine riesige destruktive Wut bekommen habe, ich als privilegierte Person, die sonst nicht viel direkt mit dieser Partei zu tun haben muss, außer sie steht halt mit ihrem häßlichen türkisen Tisch vor meiner Süßigkeitenkirche, dachte ich: Entweder du bist jetzt einfach den ganzen Tag lang wütend oder du gehst da jetzt hin und guckst, was du machen kannst.
Und dann bin ich dahin und hab geguckt, was ich machen kann. Da standen um den Stand verteilt schon Aktivist:innen herum und haben Flyer verteilt. Und dann bin ich zu einer Person hin und hab einfach gefragt, ob es helfen würde, wenn ich auch ein paar Flyer verteile. Ich war selbst ganz überrascht von dieser Idee, die mein Sprechapparat völlig ohne kognitiven Input formuliert hat, aber fand sie dann ganz gut. Und schon bekam ich einen Stapel Faltblätter überlassen und den Tipp, keine Diskussion mit Nazis zu beginnen. Ich hab mich dann auf die Suche nach einem strategisch günstigen Platz gemacht und auch direkt gefunden: Kleine Kreuzung, da wo Smoothie-Wagen, Apotheke, komische Eckkneipe und Bäckerei aufeinandertreffen. Da stand nämlich eine Frau von der AfD und neben ihr zwei Gegenaktivisten und dann für die nächsten 90 Minuten auch ich. Wir haben die Nazifrau nie allein gelassen.
Und dann hab ich einfach die Leute angesprochen, die an mir vorbeikamen und ihnen Informationsmaterial gegen die rechte Partei angeboten. Und nach mir hat die Nazifrau ihnen dann Informationsmaterial für die rechte Partei angeboten und dazu noch einen häßlichen türkisen Kugelschreiber. Oder andersrum, erst sie, dann ich. Das war eigentlich cooler, weil man der Nazifrau dann so angenehm ins Wort fallen konnte und weil wir zu dritt waren, konnte sie dann auch nichts machen. Und sehr sehr oft war es einfach so, dass die Leute der Nazifrau gegenüber sehr deutlich zum Ausdruck gebracht haben, was sie von antidemokratischen Scheißparteien halten und sich bei uns für die Präsenz bedankten und das war dann immer wie ein Eigentor des Gegners mit direktem Anschlusstreffer für einen selbst, um hier mal beim Schach zu bleiben.
Ich habe gemerkt: Sehr viele, die allerallermeisten, die heute an uns vorbeikamen, sind gegen die AfD. Auch die alten Opis, auch die älteren Konservativen. Und echt viele haben schon per Briefwahl gewählt.
Haben wir heute jemanden überzeugt, die AfD nicht zu wählen? Vermutlich nicht. Bezweifle, dass das mit einem kleinen Flyer, den man zwischen Brötchentüte und Einkaufskorb geklemmt bekommt, geht. Aber es hat richtig gut getan, neben einer Nazifrau zu stehen und ihr zu zeigen, dass sie kein Recht hat auf Nazipropaganda, dass sie nicht unwidersprochen bleibt.
Guter Start ins Wochenende, keine Wut weit und breit, will ich mir merken.

Drei Wochen

Morgen sitze ich wieder am Schreibtisch, schreibe Mails, mache Pläne, lege Dinge ab, koordiniere Kram und bekomme Geld dafür. Aber heute noch nicht, heute ist Urlaub. Letzter Tag nach drei sehr nötigen, außerordentlich nötig gewesenen Wochen Auszeit.

Woche eins

Der Urlaub startete direkt mit Geburtstag. Erst wurde das kleine Kind sechs und ein paar Stunden später ich siebenunddreißig. Beides sehr angenehme Ereignisse, die Tochter freute sich über Bücher, Musik, eigens angefertigte Kleidung und Raupen, die wir beobachten bis sie Schmetterlinge werden und dann hier rausschmeißen bzw. selbstständig wegfliegen lassen. Näher kommen wir an Haustiere nicht dran.
Ich freute mich über Konzertkarten für Oktober 2022, ein selbstproduziertes Video, in dem Notting Hill als Cartoon nacherzählt wird, Blumen, einen Gutschein für einen 1a Italiener und eine Salzmühle, die ich mir selbst schenkte und mit Salz, Tomaten, Thymian, Chili und Knoblauch (alles getrocknet und kleingeschnitten) füllte. Ab jetzt schmecken Tomaten NOCH besser.

Dann wurde renoviert: Das große Kind fragte für das eigene Zimmer einen neuen Anstrich und einen neuen Schreibtisch an und konnte durch erfolgreiche Sparmaßnahmen beides problemlos selbst finanzieren, da kann man dann auch nichts machen. Und so hat sie nun einen anderen Arbeitsplatz und eine grüne Wand. Und weil sie das Zeitalter des Teenietums so gut wie erreicht hat, stellten wir noch einen Sessel davor, da sitzt sie bei Bedarf nun drin und kann sämtliches elterliches Unrecht, das ihr in den folgenden harten Jahren der Pubertät sicher häufig zustoßen wird, verarbeiten und ihre konstruktiven Schlüsse daraus ziehen (zB dass sie niemals und unter keinen Umständen so werden wird wie wir).

Und weil die kleine Tochter nun bald zur Schule kommt, haben wir bei ihr auch ein wenig umgeräumt und den alten Schreibtisch der großen Schwester platziert. Und da sitzt nun sie und wartet auf bildungsinstitutionellen Input.

Zuvor hatte sie sich von der Kita verabschiedet. Und ich mich auch. Ich kann Abschiede nicht so gut und darum bin ich gerade immer noch ziemlich traurig, dass unsere Zeit dort nun vorbei ist. Wir hatten auch mit dieser Kita sehr viel Glück und ich bin dankbar, so gute Orte für unsere Kinder erwischt zu haben.
Die große Tochter wurde auch gegen Corona geimpft, zufällig am selben Tag wie Greta Thunberg. Sie war vierundzwanzig Stunden lang sehr schlapp und konnte leider nur im Bett liegen, Snacks angereicht bekommen und Filme schauen, aber darauf konnten wir uns gut einstellen, denn diesen Verlauf hatte sie auf Empfehlung ihrer bereits geimpften Freundin exakt so vorausgesagt. Ansonsten vertrug sie die erste Dosis gut. Somit sind nun 75 Prozent des Haushalts so wirksam wie aktuell möglich gegen das Virus geschützt. Das fühlt sich mit Blick auf den Herbst erstmal gut an.

Woche zwei

Monsieur LeGimpsi stieß nun zur Urlaubsgemeinschaft hinzu und wir fuhren für fünf Nächte in ein noch kleineres Kaff als letztes Jahr: nach Winsen. Da ist einfach mal gar nichts. Wir hatten ein Haus mit großem Garten gemietet und das reichte. Es gab dazu noch unerwartetes Bonusmaterial: Hühner, Schafe und eine Katze. Alle liefen frei übers Grundstück und sorgten für sehr viel optische Entspannung und Flausch.

Wir waren dann aber doch an drei Tagen ein wenig in der Umgebung: zum ersten Mal mit der kleinen Tochter im Kino in Peter Hase 2 (sie schien angemessen beeindruckt, vor allem von den Getränkehaltern an den Sitzen). Im Heide Park (joa naja tja). In Bergen-Belsen, in der Gedenk- und Dokumentationsstätte. Seit 2007 gibt es dort eine Dauerausstellung, die für Personen ab 14 Jahren empfohlen wird. Wir hatten beide Kinder dabei und vorab geschaut, welche Bereiche wir auslassen. Es werden Originalaufnahmen aus dem Gefangenen- und Konzentrationslager gezeigt und historische Gegenstände und Kleidungsstücke ausgestellt. Man kann sich Zeitzeug*innenberichte Überlebender anschauen und anhören. Das große Kind hatte bislang noch nicht so viele Berührungspunkte mit der Shoah und dem Faschismus dieser Zeit. Es hat Anne Franks Tagebuch als Graphic Novel gelesen und darüber dann Zugang zur Ausstellung gefunden, Anne Frank hat hier einen eigenen Bereich bekommen. Ich möchte noch einmal allein und mit viel Zeit dorthin fahren, alles in Ruhe lesen und im Anschluss ganz still über das Gelände gehen.

Woche drei

Und dann geschah etwas verrücktes: Die Kinder zogen temporär zu ihren Großeltern. Die große Tochter zu Monsieur LeGimpsis Eltern nach Frankfurt, die kleine zu meiner Mutter. Und da sind sie nun.
Keine Kinder weit und breit. Keine aktive Elternschaft. Es ist unglaublich. Einfach nur rumdödeln, Zeit verplempern, nichts zu tun haben, kaum angesprochen werden, keine externen Anliegen beantworten, keine Lösungen liefern, keinen Streit schlichten, keine tausend verschiedene Mahlzeiten für alle Essensvorlieben gleichzeitig kochen, kein Vorbild sein, keine Angebote machen, einfach nur in der Geschwindigkeit leben, die ich am besten finde: Schnecke.

Spazieren, im Park rumliegen, in der Badewanne rumliegen, Bücher lesen (erst Seth Rogen, dann Andy Weir), stricken, puzzeln, Podcast hören, kochen, dabei alte Folgen Biolek schauen und wenn alles zu anstrengend wird: schlafen. Wobei stimmt nicht, ich war auch unterwegs. Und habe eine Freundin in Hannover besucht und gestern waren Monsieur LeGimpsi und ich abends auf einer kleinen Geburtstagsfeier mit Alkohol und echten Menschen und wir waren erst nach Mitternacht zurück, aber wir hätten auch theoretisch bis jetzt bleiben können, weil:
Wir haben derzeit keine Kinder.

Danke, lieber Urlaub, du warst sehr gut zu uns.

Tiefe Bauchatmung

Neulich sind Monsieur LeGimpsi und ich durch den Wald gegangen und haben über Generation Z gesprochen und wie sie auf Tiktok niemand mehr versteht. Wobei es eigentlich Quatsch ist, weil Tiktok vor allem ihre eigene Plattform ist. Bleibt also, dass niemand sie versteht. Was auch Quatsch ist, weil ihre Freund*innen und Familien und Lehrer*innen und Soziolog*innen und später dann Historiker*innen sie bestimmt wohl verstehen. Bleibt also eigentlich nur, dass ich sie nicht so richtig verstehe, weil ich eigentlich auch niemanden der Gen Z kenne. Dafür die Alphas dann wieder, denn zu denen gehören meine Kinder. Was nicht ganz korrekt ist, wie ich gerade feststelle, denn nur meine kleine Tochter ist eine Alpha, die große eine Z Und die verstehe ich schon noch und auf Tiktok ist sie aber bislang nicht, da wäre es jetzt schon interessant, zu überprüfen, ob ich sie und ihr Zeichensystem dort verstehen könnte. Aha. Gut, dass das nun geklärt ist. Wo doch so vieles weiterhin im Vagen bleibt. Wo sich die Dinge neu ordnen. Wo ich nur denken kann: Akzeptieren, akzeptieren, akzeptieren. Wo ich doch mit Unsicherheit und dem Wegfallen von Kontrolle einfach überhaupt nicht klarkomme offensichtlich. Nicht mal die Illusion von Kontrolle, hab ich noch. Die ist mir zuletzt weggebröckelt, so wie Personen, von denen ich dachte, sie seien gesund, umkippen und dann sind sie entweder gar nichts mehr oder erstmal sehr deutlich nicht gesund. Und dann das Pandemielife und seither identifiziere ich mich einfach nur als Ball in einer Lotteriescheißetrommel und machmal werden Bälle neben mir rausgenommen und ich merke sofort, wie stochastisch bedrohlich es wird und manchmal werden Bälle hinzugegeben und das Aushalten wird leichter. Das waren zwei disruptive Jahre, die haben was mit mir gemacht. Mich das Fürchten gelehrt. Sie haben mich weicher und härter werden lassen. Weicher mit mir selbst und härter gegen andere. Was nicht schlecht ist. Die meiste Zeit meines Lebens war es genau anders rum. Aktuell bin ich innerlich ein Smoothie, in den von außen aber niemand seinen Strohhalm reinhalten kann. Grundsätzlich erstmal nicht verkehrt. Ich hab viel über mich gelernt in den letzten Monaten. Was hilft, wenn ich mal nicht klarkomme (und boy, ich komm oft nicht klar): Spazieren gehen, etwas mit den Händen machen, puzzlen, putzen, kochen, baden, aufräumen, etwas planen, etwas anders als sonst machen, mit jemandem sprechen, feel all the feels, Musik hören, arbeiten, alte Serien schauen, den Parasympathikus seine magic machen lassen, tiefe Bauchatmung, weitermachen. Weitermachen eigentlich unterm Strich. Immer weitermachen. Das Machen ist nicht mein Problem, das kann ich gut. Gestalten, was gestaltet werden kann. Keine Leichtigkeit erwarten, keine Fröhlichkeit. Eine schwere Zeit erkennen, wenn sie mir über den Weg läuft, mich unterhaken und Erwartungsmanagement betreiben.
Auf jeden Fall bin ich aktuell schon wieder viel älter als biologisch vorgesehen. So wie mit Mitte zwanzig, als ich Mutter wurde und über Nacht für sehr lange Zeit Anfang dreißig war. Jetzt bin ich Mitte dreißig, fühle mich aber wie Ende vierzig. Damn it.

I’ve saved every letter you wrote me

Weiterhin Hamilton hören all day every day. Ich trag so nen kleinen Lautsprecher mit mir von Zimmer zu Zimmer und treibe den akustiksensitiven Monsieur LeGimpsi damit an den Rand der Scheidung (egal, Washington is on my side). Seit ich mit dem kleinen Kind schwanger war, kann ich Hitze nicht mehr leiden. Darum den Tag in der abgedunkelten Wohnung verbracht und aufgeräumt. Echt nicht so viel macht so viel Spaß wie Sachen aufräumen. Ich räum so gern Sachen auf. Noch besser: Sachen ausmisten. Alles einmal in die Hand nehmen und gucken, ob’s noch gebraucht wird. Und vor allem: Gucken, ob’s ein besseres Ordnungssystem gibt. Es handelt sich um eine wohltuende Parabelbewegung. Erst wirds unglaublich chaotisch und dreckig und Dinge stapeln sich um einen herum und man denkt, das passt unmöglich alles wieder in diese Kiste rein und dann beginnt man die Lage zu sondieren und merkt sofort, richtig viel braucht man einfach nicht mehr und bekommt direkt ein kleines hellblaues Gefühl und wischt die Kiste einmal flott aus und ab diesem Punkt befindet man sich auf süßer Talfahrt und was bleiben darf, wird zurück in die nun geräumige Kiste gelegt und das wars an der Stelle. Alles kommt an seinen Platz und dort liegt es dann, bis es das nächste Mal wichtig wird. Gestern beim Einschlafen dachte ich, morgen wird ausgemistet und dann ohne Scheiß hab ich die halbe Nacht wachgelegen, weil ich mich so drauf gefreut und jede Schublade schon mal geistig vorsortiert habe. Ziel ist immer, in der Wohnung einen topaktuellen Zustand zu haben. Also alle Dinge, die hier mindestens einem Kind nicht mehr passen, in den Keller zu bringen oder langfristig loszuwerden. Dass wir nur das um uns haben, was wir brauchen (und achttausend selbstklebende Wackelaugen in unterschiedlichen Größen nur für den Fall natürlich). Guter Tag.

That Would Be Enough

Diese drei Tage ohne Kinder sind das erholsamste, was ich seit 2008 gemacht habe. Mein Leben besteht aus Hamilton hören, Ottolenghi kochen, lesen, schlafen, stricken und Podcast hören, alte Obama-Videos schauen, Fahrrad fahren und mit Monsieur LeGimpsi durch die Gegend laufen. Regel: Dabei tragen wir Kopfhörer und sprechen nicht. Zusammen sein und trotzdem kann jeder machen, was er will. Wir haben dieselbe hohe Schrittgeschwindigkeit und meistens laufen wir komplett synchron. Ich komme mir dabei vor wie ein zeitreisender militärischer Zombie (ich bin komplett abgespalten von meiner Umgebung und höre am liebsten Right Hand Man und Guns and Ships).

Mein Nachbar

Der Mann meiner Nachbarin ist gestorben. Mein Nachbar also. Sie wohnen noch nicht lange bei uns im Haus und wir kennen uns nur aus der Ferne. Aus der Ferne sehe ich, wie der eine Mensch plötzlich fehlt und der andere sein Leben verloren hat. Meine Nachbarin sieht aus wie jemand mit großen Schmerzen. Wie nach einem Verkehrsunfall, wenn verschiedene Arten von Schmerz miteinander um die Wette brüllen und mal der eine, mal der andere führt und man selbst aber eigentlich gar nichts mehr zu melden hat. Wie jemand, der gerade erst begonnen hat, zu trauern und ahnt, wie tief der Brunnen sein wird, in den er gefallen ist. So eine Art von Trauer kenne ich nicht selbst und wenn ich meine Nachbarin sehe, habe ich nichts als Respekt für sie. Für das, was sie trägt und wie sie versucht, die Last auszubalancieren und wie sie manchmal daran scheitern wird.

Ich wundere mich immer wieder, wie schnell ein Mensch in diese Lage geraten kann. Wie dünn die Haut ist, die uns zusammenhält und warum wir nicht über dieses Wissen verrückt werden. Wie leicht es sich verdrängen lässt und mich glauben macht, mein größtes Problem derzeit sei, dass ich bald einen Kindergeburtstag für lauter Fünfjährige ausrichten muss.

Ich denke an meine Nachbarin und denke an mich selbst. Ich treffe meine Nachbarin auf der Straße und möchte ihr sofort von meiner Trauer erzählen und wie ähnlich das mit dem Tod in mein Leben kam und denke, das wird ihr ja sicher helfen, mich zu hören. Und ich treffe sie und sage nichts, denn wir sind nicht allein und der Moment nicht da. Und hinterher fällt mir ein, wie andere mir damals ihre Geschichten erzählt haben, wie sie ihre Pakete bei mir abgeladen haben, weil man anscheinend zur allgemeinen Lieferstelle wird, wenn man etwas erlebt, das im Alltag sonst nicht weiter besprochen wird. Wie sie vor mir standen und gesagt haben: Ich weiß was, ich weiß was. Und ich mich wie ein Gefäß, wie eine Vase gefühlt habe, in die jeder seine verdorrten Blumen stellte. Bloß dass ich eine Vase war, die gerade einen Verkehrsunfall hatte und in tausend Stücke zersprungen und von sehr vielen Pflastern gehalten wurde. Also mehr ein Haufen Glassplittermatsch, als herkömmliche Vase. Und da habe ich mich erschrocken, denn fast hätte ich das nun auch gemacht.

Dabei sollten wir unsere Geschichten teilen können, denn offenbar lebt in uns das Bedürfnis danach. Vielleicht nicht mit den frisch Betroffenen, die wir nur aus der Ferne kennen, die haben vom Leben für die nächste Zeit genug Input bekommen. Aber im Alltag. Mehr vom Tod sprechen, ihn mehr reinholen und ranholen zu uns, in unsere Gespräche. Mehr zeigen, was wir wissen. So vielleicht: Also die Erdbeeren diesen Sommer schmecken allesamt irgendwie etwas gummiartig, findest du auch? Mein Vater hat die ja geliebt, der konnte ständig Erdbeeren essen. Der ist eines schönen Tages einfach umgefallen und war sofort mausetot, verrückt oder? Naja, jedenfalls sind mir Erdbeeren deswegen immer äußerst sympathisch, egal ob gummiartig oder nicht.
Oder so ähnlich halt.