Als die Mauer fiel

war ich fünf Jahre alt. Ich kann mich daran erinnern, dass meine Eltern Sekt tranken und es gekauften Kuchen gab. Das Ende des sozialistischen Staats der Arbeiter und Bauern ist in meiner Wahrnehmung positiv besetzt.
Am Wochenende las ich ein Buch von Maxim Leo: »Haltet euer Herz bereit. Eine ostdeutsche Familiengeschichte«. Dabei habe ich gemerkt, wie wenig ich über das Leben in der DDR weiß. Ich habe »Das Leben der anderen«, »Good Bye, Lenin!« und »Sonnenallee« gesehen. Ich trage klischeebesetztes Halbwissen mit mir herum, das sich in den letzten zweiundzwanzig Jahren angesammelt hat. Aber wie es passieren kann, dass ein Staat seine Bürger so lange Zeit einsperrt, dass es welche gibt, die sich einsperren lassen, dass es welche gibt, die die Einsperrung als notwendige Abgrenzung empfinden, darüber weiß ich nicht viel.

Maxim Leo hat ein autobiographisches Buch geschrieben. Er erzählt von seiner Kindheit und Jugend in der DDR, von den unterschiedlichen ideologischen Standpunkten seiner Eltern, er begleitet den Weg der Großelterngeneration vom Nationalsozialismus zum Sozialismus.

Die beiden Großväter spielen gegensätzliche Rollen im Zweiten Weltkrieg. Gerhard kommt aus jüdischem Bildungsbürgertum, emigriert mit seiner Familie als Kind nach Frankreich. Dort kämpft er in der kommunistischen Widerstandstandsbewegung. Nach dem Krieg geht er hochanerkannt in die DDR und arbeitet für die Zeitung Neues Deutschland.
Werner stammt aus einfachen Verhältnissen, tritt beizeiten der NSDAP bei, wird eingezogen, gerät in Gefangenschaft, zwangsarbeitet in Frankreich. Als er zurückkehrt, findet er eine Anstellung, die im sowjetischen Besatzungsgebiet liegt, und gliedert sich problemlos ein. Er ist ein guter Bürger für jedes politische System.

Gerhards Tochter Anne ist verheiratet mit der Ideologie ihres Staates. Als Journalistin für das Junge Deutschland sind ihr staatliche Zensur- und Propagandavorgaben bewusst, sie fühlt sich dennoch mit der DDR verbunden. Anne wird ein Leben lang brauchen, sich von ihr zu lösen.
Werners Sohn Wolf überlegt bereits als Junge, wie die Grenze zu überwinden sei. Er arbeitet als Retuscher und Zeichner, die Staatssicherheit ist aufmerksam.
Anne und Wolf heiraten und sind sich in allem einig, bis auf ihre Beziehung zum Staat.

Ich kenne Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg, ich kenne Geschichten aus der Zeit danach. Es sind isolierte Episoden einzelner Menschen, als hätte jede Zeit ihre eigenen Zeugen. Dabei durchlaufen die Zeugen doch ganz viele Zeiten. Dabei lassen sich spätere Zeiten doch durch die Erfahrungen früherer erklären. Frank Schirrmacher hat mal gesagt, um die politische Entwicklung der sechziger, siebziger, achtziger Jahre zu verstehen, sei es wichtig, zu differenzieren, wie alt die politischen Entscheider dieser Zeiten Neunzehnhundertdreiunddreißig waren. Wie stark der Nationalsozialismus sie sozialisiert habe. Es mache einen Unterschied, ob sie acht, dreizehn oder fünfzehn waren. Wie ausgeprägt sie eigenes Denken vor dem Systemwechsel entwickeln konnten. Ich finde das sehr plausibel.
Maxim Leo hat Entwicklungen von der Weimarer Republik bis in die Neunziger Jahre beschrieben, unterschiedlich getragen von zwei Familien. Was passiert mit Menschen, die ein totalitäres System überleben, um direkt ins nächst zu wechseln?

Was ich an diesem Buch so mag, sind nicht nur die Lebensgeschichten. Auf die fahre ich eh ab. Ich mag die verschiedenen Blicke, mit denen auf das totalitäre System geschaut wird und die alle in sich schlüssig und richtig sind. Die Kippbewegungen die sich von Generation zu Generation weitertragen. Ich mag die Kraft, die in diesem einen System zuerst dafür und zum Schluss so dagegen ist. Ich habe gesehen, dass Herkunft und Sozialisation auch dann eine Rolle spielt, wenn Status keine spielen sollte. Dass scheinbare Chancengleichheit Dir nichts bringt, wenn Chancen nicht existieren.
Und ganz allgemein: wie sehr Du Produkt Deiner Umwelt bist. Wie viel Glück oder Pech Du hast, wenn der große Greifarm Empfängnis sich niedersenkt und Dich zu den einen oder anderen Eltern schiebt, die ihre Eltern huckepack tragen und an deren Rücken deren Eltern kleben.

Gerhard hat übrigens auch ein Buch geschrieben: »Frühzug nach Toulouse: Ein Deutscher in der französichen Résistance 1942-1944«, BS-Verlag-Rostock, 2006.

One Reply to “Als die Mauer fiel”

  1. Das hast du sehr schön ge-/beschrieben. Ich werde das Buch lesen!

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