Meine allumfassende Kindle-Review

Das Ding ist seit einigen Tagen in meinem Besitz und wie es sich für ein anständiges Informatikerblog gehört, ist eine profunde Kritik unumgänglich. Der verblendete Herzschmerz der ersten Minuten ist ja stets von eher fragwürdigem Gehalt und weicht einer ausgewogen kritischer Betrachtung.
Komme ich also zu den Vorzügen und positiven Alleinstellungsmerkmalen des ersten und einzigen Gadgets meines Lebens.
In Abgrenzung schludriger Halbjuristen achte ich natürlich auf eine stringente Gliederung. Ich entscheide mich für Römisches, das erinnert mich an 100101101, ist aber eine andere Geschichte.

I)
Wenn Du Dich für ein Buch interessierst und Du stehst nicht in einer Buchhandlung, wo Du es durchblättern und den allesentscheidenden ersten Satz lesen kannst, dann hat der Kindle die ultimative Lösung für Dich: Er verteilt Leseproben wie Pafümerieangestellte Duftwässerchenmuster. In sekundenschnelle lädst Du den Textausschnitt herunter und kannst ihn in beliebiger Häufigkeit lesen. Er gehört Dir und kostet Dich nichts.
Ich habe den Speicher meines Kindles bereits zu Hälfte mit diesen niedlichen samples gefüllt, zu Kaufentscheidungen hat allerdings noch nicht eines geführt.

II)
Die Gutenberg-Bib ist wahrlich nett zu besitzen. Für lau. Du hast die freie Wahl von Aesop bis Zweig. Theoretisch.
Denn Punkt

III) läutet schon den Verriss ein:
Das Angebot deutscher Literatur ist noch viel zu bedeutungslos. Bislang werden zwar über 30.000 Werke geführt, die teilen sich aber in einundzwanzig Kategorien auf. Belletristik ist mit 14.000 am stärksten vertreten, bietet aber auch gefühlt zur Hälfte Kostbarkeiten wie „Eine unzüchtige Lady“ oder „Purpurfalter. Der erotische Vampir-Roman“ an. Bislang scheint also nur die schmutzige Spitze des amazon-Eisbergs digitalisiert. Solange sich das nicht ändert, ist Print alternativlos.

IV)
Kannst Du Dir vorstellen, was es mit Dr. Schmotzen machte, als sie an Heiligabend ihren Weihnachtsteller sah? Zwei Minuten hielt die Schockstarre an, bevor sie sich zu einer tiefen Unentschließbarkeit entwickelte. Was esse ich bloß zuerst?
Was lese ich bloß zuerst? Wie begleiche ich die Opportunitätskosten meiner Entscheidung? Wenn ich Winnetou I-IV lese, habe ich keine Zeit für Die Schatzinsel. Wenn ich mich durch alle Leseproben arbeite, wann soll ich dann den Volltext lesen? Diese paradoxe, kontingente Wahlmöglichkeit verursacht bei mir Stress. Und der beeinträchtigt meine Konzentration auf ein Buch.
Wenn ich eine Printausgabe lese, habe ich diese allein in meinen Händen und ich bin ganz bei ihr. Der Kindle bietet mir über 750.000 Werke und sie alle rufen nimm mich! Und ich renne von einem zum anderen und bleibe bei keinem.

V)
Vielleicht liegt es daran, dass mein technisches Verständnis unter der Grasnarbe liegt und mein Interesse an diesen Dingen sich dem Erdkern nähert. Aber: Ich habe immer noch nicht herausgefunden, wie ich den Akku auflade. Ich habe den bestürzenden Verdacht, dass ich eigens für diesen Zweck in ein Kabel investieren muss. Das fände ich eine Unverschämtheit von Herrn amazon. Genauso, wie von Herrn Ikea, der plötzlich alle Schrauben in seiner Garage zurückhält. Frauen kämen niemals auf solche Ideen.
Da die vielgepriesene Akkulaufzeit ja einen Monat hält, bin ich jetzt noch ganz entspannt. Reden wir Mitte Juni nochmal darüber. Monsieur LeGimpsi schäbigerweise, in Neid und Missgunst, weigert sich, mir die Antwort zu verraten.

VI)
Der Kindle ist bereits zweimal abgestürzt und ließ sich nur durch verschiedene ergotherapeutische Anwendungen aus dem komatösen Zustand herausführen. Das nervt und macht mich den Garantieschein suchen. Ist das so? Sind Kindles Pussies?

Jetzt folgt der konklusive nutshell-Part:
Ja, mein nettes Kindle, wird schon noch mit dem Angebot an Büchern, in Quantität und Qualität. Ich kann mir vorstellen, dass wir uns schlussendlich auf einen Leseprobenservice einigen. Du lieferst mir digitale Auszüge und ich kaufe sie in Print.
Und sollte ich zum Strand fahre, irgendwann, dann freue ich mich, dass es Dich gibt und ich an meinem verlängerten Wochenende dank Dir achthundert Gramm weniger Gepäck zu schleppen habe.
Dr. Schmotzen übrigens mag den Reader sehr. Meine einzige Investition bislang galt Andersens Märchen für einen Euro zweiundsechzig. Abends im Bett lesen wir nun vom Kaiser und seinen neuen Kleidern und ich kann mühelos beides im Arm halten: meine Tochter und ein komplettes Märchenbuch.

6 Replies to “Meine allumfassende Kindle-Review”

  1. Vorbildlich gegliederte Kritik, auch für den sachfernen Leser gut nachvollziehbar und verständlich. In der Sache fehlt mir aber ein ganz entscheidender Aspekt: der megageile Screensaver, von dem in einem früheren Beitrag hier berichtet wurde! Zudem: Wenn es „Purpurfalter“ gibt, hallo?, was willst du da noch mit Aesop und Zweig????

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  2. Vielen Dank für die umfassende Kritik!
    Hier die Auflösung der Akkufrage: Möchte man den Kindle in sagenhaften 4,5 Stunden wieder komplett aufladen, bräuchte man tatsächlich den „optional erhältlichen“ Netzadapter.
    Möglichkeit zwei wäre aber, dass Du Dein Kindle per USB- Kabel (das ja netterweise mitgeliefert wird) an Deinem PC nuckeln lässt.
    So kann ohne zusätzliche Investition in Kabelsalat ebenfalls der Akku aufgeladen werden.
    LG,
    Viola

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  3. Vielen Dank für die umfassende Erläuterung, Viola!
    Dann werde ich mein Kindle nun am PC zu neuem Leben erwecken.
    Wie gefällt er Dir denn, der Kindle? Und liest Du jetzt anders?

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  4. Hallo fzerozero!
    Da ich eine ausgesproche Viel-Leserin bin, die locker auch mal zwei Bücher die Woche verschlingt, hatten die heimischen Bücherstapel schon bedenkliche Ähnlichkeiten mit bayerischen Gebirgsketten angenommen.
    Also gab ich dem Kindle seine platzsparende Chance. Im Moment schwelge ich noch in der Vielfalt der kostenfreien Klassiker, da ich mir schon vor Unzeiten vorgenommen hatte, diese eines schönen Tages zu lesen und bin mit der Darstellung des Schriftbildes und dem Handling des Gerätes eigentlich ganz zufrieden. Mutig habe ich gerade mit Jane Austens „Emma“ auf englisch begonnen und hoffe, das ich durchhalten werde.
    Ein paar Nachteile hat das Ganze aber für mich dann doch: Da ich neue Bücher gerne mit ins Bett nehme um Sie zu lesen und dabei gerne einmal einschlafe, habe ich bei meinem zarten Kindle dann doch Angst, dass ich ihn irgendwann dabei plätten werde.
    Auch das Gewühl, wenn man ein neues Buch aufschlägt, sein Gewicht in Händen hält und die Seiten rascheln hört – kurz die Haptik – fehlt mir irgendwie schon ein bisschen…
    Ein Blick auf das Angebot an aktueller Literatur war dann auch schon nach einiger Zeit ziemlich ernüchternd. Da man ja kaum weniger für die Print-Ausgabe als für das e-Book bezahlt, sehe ich dem digitalen Buchkauf noch etwas skeptisch entgegen.
    Bleibt also abzuwarten, wie sich der e-Book-Markt entwickelt und halte mich bis dahin eben mit den Klassikern über Wasser. 😉

    LG,
    Viola

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  5. *Argh*
    Wenn das Hirn schon in den Feierabendmodus schaltet…
    Ich meinte natürlich das GEFÜHL eines neuen Buches (obwohl man ja auch darin herumwühlen könnte…)
    Und natürlich zahlt man weniger bei der e-Book Ausgabe denn bei der Print-Ausgabe (wenn auch leider nicht viel) …

    LG,
    Viola

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  6. es lebe die innere Korrekturschleife!

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