Jemand verschwindet

Als ich jünger war und ihr Zustand also näher an uns lag, schrieb ich einen Text über sie. Wenn ich sie heute sehe, wie sie eingekehrt ist, versteinert, wie sie nichts in sich lässt außer Brot und Tee, scheint ein ganzes Leben dazwischen zu liegen.

(Foto: youstine)
Jemand verschwindet
Ich kenne Jemand, die ist eine Eintagsfliege. Nein, eher eine Augenblicksfliege. Eine Fliege ist sie allerdings nicht, da bleibt also nur der Augenblick. Wobei Augenblick eine variable Größe ist. Vor einigen Jahren schien so ein Augenblick noch zwei Stunden zu dauern. Mittlerweile hält er nur wenige Sekunden. Dann drückt eine Zeitschaltuhr die Reset-Taste und: klack-klack alles verschwindet aus dem Zwischenspeicher. Dann ist auch direkt nach dem Senden ein Rückgriff nicht mehr möglich. Allein der Langzeitspeicher ganz unten, im Fundament, ist noch teilweise abrufbar. Manchmal.
Als die Augenblicke noch so ungefähr einen kurzen Spaziergang dauerten und der Langzeitspeicher die Gesichter und Orte noch mit Erinnerungen nährte, freute Jemand sich, wenn man sie besuchte. Sagte: „Mein Mädchen, bist groß geworden.“ und: „Kalte Hände hast du. Merk dir: Kalte Hände, heiße Liebe.“. Jedes Mal. Dabei lachte sie einen dann verschwörerisch an und war ein wenig stolz. Man dachte: Sie weiß zwar nicht mehr, wie ich heiße, aber sie weiß noch, wer ich bin.
Dann ging man ein Stück mit ihr an der frischen Luft. Und wenn sie die Bäume sah und die Felder, konnte sie daraus noch ableiten. Wusste am Stand des Getreides, welche Jahreszeit war und wie der Winter wird. Dann fiel ihr ein, dass der Bauer ja ihr Bruder war und sie als Kinder auf den Feldern arbeiteten. Das war meistens sehr verwirrend für sie. Sie verwechselte dann die Namen und die Beziehungen und nannte mich ihre Mutter und dann war das Durcheinander groß und sie ahnte, irgendetwas stimmt da nicht. Schon fanden ihre Augen einen besonders hohen Baum und ein neuer Augenblick begann. Klack-klack.
Heute gibt es keine Speicher mehr. Weder Langzeit- noch Kurzzeit- noch Zwischen-. Nur noch eine Aneinanderreihung von klack-klacks. Jemand scheint ein einziger Augenblick geworden zu sein. Sie sitzt in ihrem Raum und liest ein Buch. Sie liest das Buch schon seit mehr als anderthalb Jahren. Immer die gleiche Seite. Dabei gleiten ihre Augen über die Zeilen und man sieht, dass die Wörter das Papier nicht verlassen. Trotzdem sitzt sie dort, stundenlang auf ihrem Stuhl und hält sich das Buch vors Gesicht. Und dann setzt man sich zu ihr und sie lächelt indifferent und klack–klack die Reset-Taste hat auch die Unverbindlichkeit gelöscht. Man beobachtet sie und sieht ihren alten Körper und die Augen so leer und fern. Und manchmal, in der endlosen Augenblicksperlenkette, erwischt man einen besonderen Moment: Dann schaut sie einen an und ihr Blick entlässt eine vage Vertrautheit und sie sieht ein wenig erstaunt aus und schüchtern. Und kurz bevor man die Idee hat, dass sie ja gleich wieder den Satz mit den kalten Händen sagen könnte: klack-klack.

One Reply to “Jemand verschwindet”

  1. […] waren bei Dir. Deine Oberlippe ist wund und blutig, weil Du Deinen Mund fest verschließt, wenn Du trinken […]

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.