Der Lack ist ab

Letzte Nacht ist in meiner Familie etwas wirklich Historisches passiert. Seit dem Morgen verbringe ich die Zeit in feierlich exaltiertem Zustand.
Meine kleine Schwester hat der Tradition ihres älteren Bruders und ihrer noch älteren Schwester folgend Papas Auto gegen Beton gefahren.
Im aktuellen Fall wurde der rechte Kotflügel in Mitleidenschaft gezogen. Da ist der Lack ab. Und das Herz unseres Vaters ist für einige Zeit (proportional zu der Größe des Schadens, mindestens aber drei Tage) erheblich schwerer geworden.
Das erste Mal als das väterliche Fahrzeug, das einzige der Familie, jedoch mit seinem Namen auf dem Fahrzeugschein und seiner Zuwendung in Pflege und Instandhaltung, an zementierte Tatsachen schrammte, saß ich minderjährig am Steuer und versuchte, es nach meiner dritten Fahrstunde aus der Garage zu fahren. Damals handelte es sich um einen metallic grauen Wagen, dessen Kratzer an der seitlichen Motorhaube durch mit Glitzer angereicherte Wasserfarbe zunächst gut zu kaschieren waren. Nach dem nächsten Regen kam das Donnerwetter. Es gab einen fürchterlichen Ärger und eine Rechnung über mehrere Hundert Euro. Im Laufe der Jahre folgten noch zwei bis drei weitere unschöne Begegnungen zwischen dem Auto, der Garage, mir und meinem Vater bis mein Bruder dann in den Besitz der Fahrerlaubnis gelangte und ziemlich bald anfänglich einen und wenige Manöver später beide Seitenspiegel abfuhr. Aus seinen Beobachtungen meiner Unfälle hatte er gelernt, diplomatisch und lösungsorientiert an das Problem heranzutreten. Er präsentierte neben dem abgerüsteten Vehikel auch sogleich den Vorschlag, zum örtlichen Schrott- und Abladeplatz zu fahren und dort mal nach Ersatzspiegeln zu schauen, da werde man in jedem Fall etwas Hübsches finden. Acht Tage lang wog das Herz meines Vaters schwer.
Und nun hat es also meine Schwester erwischt.
Die Zeit zwischen Kollision mit dem Objekt und dem Vater ist die schlimmste. Man leidet Höllenqualen und wünscht sich eine Gasexplosion herbei, damit das unheilvolle Auto einen viel mächtigeren Gefährten bekommt. Ständig ruft man sich den kleine Lackschaden ins Gedächtnis, immer winziger wird er, immer oberflächlicher und sobald man ihn zum Verschwinden gedacht hat und man vorsichtig die Stelle am Auto kontrolliert, springt sie einem mit zwei Dezimetern Durchmesser und tief wie der Marianengraben ins Gesicht.
Ja, das Antasten des Autos ist in meiner Familie eine Reifeprüfung und ich bin froh, dass alle Kinder sie nun abgelegt haben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.