prime

Der Mann ist diese Woche weg in Schweden, was ein ausgeprägtes Gefühl des sturmfrei Habens in mir auslöst. Also ich vermisse ihn schon, aber gleichzeitig ist auch mal was anders hier und das ist ja grundsätzlich aufregend und toll. Ich kann jetzt alles allein entscheiden, das Auto verschenken oder einen Hund kaufen, was will er machen.
Als mein Vater Anfang der 00er mal ne Woche mit seiner Tennismannschaft im Urlaub war, haben meine Mutter, meine Geschwister und ich am ersten Morgen beim Frühstück überlegt, wie es wohl wäre, den Teppichboden durch Laminat zu ersetzen. Und nach dem Frühstück haben wir dann direkt den mit der Cousine verheirateten Fußbodenverleger angerufen und am Abend bereits hatte eine Fußballmannschaft rund um den sogenannten Schlachter unser Klavier rausgetragen und das Wohnzimmer war leergeräumt und die Türen ausgehängt, weil uns nachmittags eingefallen war, dass man die ja auch mal weiß lackieren könnte. Danach folgte noch der Laminatkauf bei Obi, wo wir einfach die schönste der günstigen Sorten ausgesucht haben. Wir hatten damals ein Gesamtbudget von TAUSEND Euro, wir hätten also ein ganzes Haus bauen können und mit dem Gefühl sind wir dann auch noch zu Ikea gefahren. Wir vier haben im Entscheidungs- und Sanierungsbereich zusammen sehr viel geschafft in der Woche und als mein Vater nach Hause kam, hatte er an seiner Rückhand gearbeitet, einige Grillteller verputzt und war der neuen Wohnsituation gegenüber positiv eingestellt. Meine Mutter hat seitdem Legendenstatus in getting shit done.
Die eine Tochter war auf Stufenfahrt in Berlin, hat sich eine Woche lang Gentrifizierung angeschaut, sich von Pommes ernährt und ist zwischendrin 16 geworden. Ihre Freundin hat ein Buch voller Briefe gestaltet und ihr um Mitternacht überreicht. Sie hat in den letzten Wochen sämtliche Leute mobilisiert, Deadlines vergeben, nachgefasst, Deadlines freundlich verlängert (in meinem Fall, hat also mit Puffer geplant, diese Weitsicht), die Texte angenommen und aus ihnen ein Buch gebaut. Eigentlich ist sie ready für Projektmanagement von Publikationen und Druckdaten. Und alle haben mitgemacht, Freundinnen und Familie. Das ist schon eine ziemlich sehr besondere Ansammlung von Gedanken: Die Nostalgie von 15jähren umfasst ungefähr die letzten vier Jahre. Die von den Erwachsenen eigentlich ein ganzes Leben. Was die 15jährigen feststellen: Jetzt gerade ist auf jeden Fall prime und alles sollte unbedingt und ohne regret und mit großer Gleichzeitigkeit mitgenommen werden. Die Pandemie findet fast in jedem ihrer Texte statt und ich bin so froh, dass sie damals elf waren und nicht so alt wie jetzt. Wie kann man Dinge ohne regret machen, wenn man anderen nicht näher als 2 Meter kommen kann, wie kann das prime sein.
Der Mann hat ihr einen Satz geschrieben, der hat eine ganz neue Art von Nostalgie in mir ausgelöst, eine zukunftsgerichtete: So lange ich kann. Ich weiß gar nicht genau, wie mein Gefühl dazu heißt, aber es ist da und sehr klar. Als die Töchter noch ein Baby waren, habe ich sie mir als alte Frau vorgestellt, die ihr ganzes Leben schon hinter sich hat. Und mir kam der Gedanke, dass ich sie so nie erleben werde. Ich werd nie wissen, wie die mit 70 oder so aussehen und was sie dann umtreibt. Vielleicht verlieben die sich dann nochmal neu und ich weiß gar nicht, in wen. Oder sie haben ein Problem und niemand löst Probleme so gut wie ich, doch ich bin nicht mehr da. Wär doch schade, wär doch ärgerlich. Aber das dauert ja noch ewig und bis dahin werden die das mit dem einigermaßen vitaminhaltigen Essen und dem Aufräumen wohl schon noch selbst hinkriegen und falls nicht, bekomm ichs ja wenigstens nicht mit. Aber der Mann hats im Brief so geschrieben, dass dieses begrenzte gemeinsame Zeitfenster einfach jetzt schon präsent ist und damn das hat mich in eine zukunftsgerichtete Nostalgie gebracht. Die hat auch Trauerkomponenten und am Ende steckt wie in allem vermutlich die Angst vorm Tod. Ja schön, die Tochter hat primetime und ich such mir schon mal nen Sarg aus oder was.
Stricken ist das Beste von der Welt. Oder häkeln. Dass die Hände sich ständig in so kleinen Schleifen unendlich oft wiederholend bewegen, macht irgendwas mit dem Kopf. Es wird dann plötzlich ganz ruhig und friedlich und schön und die Zeit fließt und der Podcast redet und die Wolle wechselt vom Langen, Dünnen ins Geformte, Gewebte. Solche Nachmittage.
Hab meine Geburtsurkunde nicht mehr gefunden. Kann man aber nachbestellen, die Stadt schickt sie einfach nach Hause. Jetzt fehlt mir nur noch ein Passfoto, aber das ist ein ganz eigenes Problem.
Wie schade, dass ich nicht – wie mal geplant – Verleger geworden bin. Ich würde Dir sofort einen dicken Scheck schicken, einen Schön-schick-dick-Scheck, als Vorauszahlung für Dein erstes Buch. Weil Dinge aber anders gekommen sind, als sie mal geplant waren, schreib‘ ich nur Kommentare: Danke, dass Du weiter schreibst.
Oh das wär was, wenn du Verleger geworden wärst. Hättest bestimmt nicht nur Bücher verlegt, sondern auch andere Texte und Brettspiele und so zwanzigseitige Würfel mit Anwendungstipps. Also du wärst auf jeden Fall Verleger mit Ladentheke geworden.