Landleben vs. Stadtleben feat. Berlin

Linear oder aspektorientiert? Linear:


Wir machen eine Zugreise nach Berlin. Dr. Schmotzen verbringt einen Urlaub bei bewährter Truppe. Eisenbahnfahren ist großartig! Sobald ich meinen Platz gefunden habe, was mit Monsieur LeGimpsis sorgfältigem Studieren des Wagenplans unmittelbar geschieht, bekomme ich Hunger auf Stullen. Gibt es gemütlichere Orte, als öffentliche Fernverkehrsmittel, Picknick zu betreiben, an Landschaften vorbeifliegend?


Berlin lässt uns nicht rein, habe ich die ersten Stunden das Gefühl. Wir mühen uns ab, den Weg vom Bahnhof zum Hotel zu finden, der gigantische Netzplan macht uns leicht verzagt, warten vergebens auf den Bus und sitzen schließlich mit angeknackstem Stolz in einem antiken taxifahrenden Mercedes, der uns für elf Euro zu unserer Bettstatt bringt. Allzu weit entfernt konnten wir also nicht gewesen sein. So leicht geben wir uns nicht geschlagen, die Öffis, wir sollten sie schon noch rumkriegen.


Also direkt hin zum Ort, der uns am meisten interessiert. Prenzlauer Berg. Das Gegenuniversum, der Platz für LOHAtritische Knechte und Mägde der Kreativwirtschaft, für Mütter und Väter von Friedrich, Mimi und Charlotte, die ihrer Eltern gepflegtesten und teuersten Hobbies sind. Und so beschauen wir uns diesen Berg, den wir aus der Ferne immer ein wenig im Blick haben, immer ein wenig hinschielen auf den Mikrokosmos einer elitären Referenzgruppe. Da waren wir nun und aßen Sushi (mittelmäßig), zählten Bioläden (gar nicht so viele), betrachteten Kinderspielplätze (abgerockt aber gut besucht) und bewerteten Ausrüstung (hochwertig) und Miene (normal ernst) der Eltern.
Wir leben auf dem Land und sicher wäre es schön, mehr Menschen in unserer Lebenssituation zur Verfügung zu haben, deren Jahreshöhepunkt nicht das Schützenfest ist, gefolgt von dem im Nachbardorf, aber die finden wir wohl auch in der Großstadt nebenan.


Wir sind ein wenig ernüchtert von dieser Wanderung durch das Mekka aller bildungsbürgerlichen Eltern unter Vierzig und suchen Zerstreuung im Lichtspielhaus. Dieses Jahr waren wir bestimmt schon dreimal im Kino, das ist seit Dr. Schmotzens Erdankunft anno zweitausendacht absoluter Höchstwert. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit setzen wir uns vor eine Leinwand, egal welche Stadt sich drumherum befindet. Jemand könnte uns zwei Stunden in Paris schenken, wir würden sofort ins dortige Kino gehen.
Der Batmanfilm ist so schlimm, Monsieur LeGimpsi schlief ein. Anke Gröner hat ihn umfassend besprochen, mehr kann ich dazu nicht sagen. Außer, dass mir noch nicht mal Catwoman gefallen hat, weil ich Anne Hathaway seit jeher bescheuert finde.


Am nächsten Morgen dann Frühstück in der Mokkabar. Joa, kann man machen, die Brötchen waren unterirdisch, der Milchkaffee gut. Wir saßen in der Sonne und der Tag lag vor uns.


Urban Planting, hundeausführende Männer mit üppigem Undercut und Norwegerstrickjacken, das Tempelhofer Feld brachte uns die Klischees, die Berlin schuldet.
Weit war der Blick, der Wind frei, dieser Ort gefällt mir gut. Hoffentlich bleibt er, größtenteils unbestellt und ungeformt wie er ist.


Lauf über zehntausend Metallgesichter und höre den Lärm. Daniel Libeskind, Jüdisches Museum.


Wir haben Lust auf touristisches Programm und setzen uns in den Bus einhundert. Der fährt vom Alexanderplatz zum Zoologischen Garten und nimmt unterwegs alles mit, woran die Blicke heften bleiben. Die Dinge würde eine dicke, undurchdringliche Blickschicht umgeben, wären Blicke haptisch und würden heften bleiben, vielleicht jeder so dick wie ein Abziehbild. Und irgendwo zwischen den den Blickschichten ein bekannter Blick, ein Spur für die Ewigkeit.
Im Einkaufsladen des Westens kauften wir ein Geschenk für Dr. Schmotzen. Überhaupt das Kind. Immer wieder eine Schrecksekunde, keine klebrige, kleine Hand steckt in meiner, mein Gehtempo ungewöhnlich hoch. Und dann die körperlich schmerzende Adrenalinausschüttung reitend auf dem Gedanken Du hast sie verloren, sie sitzt noch im Bus, sie steht noch am Bahnsteig, sie ist noch in der Spielzeugabteilung, Du hast sie verloren, es befinden sich eine Million Menschen zwischen Dir und ihr, sie ist weg, sie ist allein. Und dann fällt mir ein. Sie ist ja gar nicht in der Stadt. Und ich frage Monsieur LeGimpsi vorsichtshalber auch nochmal und der schaut mich mit seinem bedenklichen Blick an und sagt, nein, das Kind befindet sich nicht in der Stadt, vermutlich schaut es gerade Olympia, denn da kommt Turnen und Turnstunde mag es.


In der Graefestraße essen wir beste Burger im Room siebenundsiebzig. Das ist moralisch nicht einwandfrei und so sitzen wir auf dem Bürgersteig und während wir selbstgemachte Pommes und Cheeseburger essen, Blumen in etikettlosen Oranginaflaschen vor uns auf dem Tisch, nebenan kosmopolitische Berliner, reden in C zwei-Englisch mit ihren kosmopolitischen Freunden aus New York über Kunst, das Leben als Künstler, künstlerische Substanz und die besten Clubs in Amsterdam, San Francisco, Manhattan und London, umkurven uns mit einem Blick auf den Boden die gentrifizierten Ureinwohner, die ein paar Meter weiter ihr Protestcamp errichtet haben, weil die Miete steigt.


Ich erlebe mein erstes Jazzkonzert. Meine Güte, ist das anstrengend. Zwei Gitarren, eine Hammond Orgel, ein Schlagzeug. Immer, wenn gesungen wird, gefällt es mir, wenn nicht, drifte ich geistig ab. Der Monsieur schwebt allerdings und darum bleiben wir bis zu allerallerletzten Zugabe.
Fun fact: In Berlin fährt nachts keine Bahn. Das hätte ich nun nicht erwartet und so laufen wir beide quer durch die Stadt zurück ins Hotel. Manchmal wechseln wir die Straßenseite, weil andere unseren Weg kreuzen, einmal mache ich mein Testament, aber dann liege ich doch im Bett und es ist halb vier, der Monsieur schläft und ich schaue Kabelfernsehen, denn das gibts nicht Zuhause, nur hier in Berlin und ärgere mich über die Werbung, schalte das Gerät aus und schlafe ein.


Wir verabschieden uns für immer vom Hotel und vergessen jeder ein Aufladekabel auf dem Zimmer, was uns aber erst drei Stunden später auffällt. Frühstück beschert uns das Cafe Kapelle, sehr köstliches, sehr reichhaltiges.


Wir haben noch ein paar Stunden Zeit, der Zug wird uns erst abends zurückbringen. Monsieur LeGimpsi zieht mich ins Computerspielemuseum, endlich kann er mir die Taschenrechner seiner Kindheit und Jugend zeigen, von denen er sonst immer nur erzählt. Während er referiert und ich supergenau zuhöre, fällt mir mein Ladekabel ein und wir fahren zurück ins Hotel, wo auch seins noch liegt.


Wir verbringen die restliche Zeit auf der Museumsinsel, wo wir in Liegestühlen kleben und lesen. Denkwürdigerweise habe ich »Die Straße« von Cormac McCarthy für Berlin eingepackt. Es kann keinen größeren Kontrast geben: Die spielenden Hunderttausenden um mich herum und die zwei am Ende aller Tage vor meinen Augen. Das ist ein Text, der mich in Unruhe versetzt und tiefste Ängste anspricht. Ich lese ihn weiter, taumelnd, das Ende vorweggenommen.


Heißa, das war ein schöner Urlaub! Ich brauche zwei neue Füße und eine neue Stadt, in die ich alle Verheißungen dieser Welt projizieren kann, aber ich habs gemocht. Und ich gebe dem Stadtleben, das mich in seiner Flottheit mit voller Wucht und kurzer Leine umwickelt hat, zwei Punkte. Es steht jetzt also sechs zu drei gegen das Leben auf dem Land.


Der erste Anblick auf der Heimatbahnhof ist ein sehr schöner.

Monsieur LeGimpsi hat auf seinem Acker auf angenehme Weise und völlig kommafehlerfrei auch über diese Tage in Berlin geschrieben.
Außerdem: Liebe b., vielen Dank für Deine Tipps! Wären sie nicht gewesen, ich hätte drei Tage im Computerspielemuseum verbringen müssen.

5 Replies to “Landleben vs. Stadtleben feat. Berlin”

  1. Gerade zum Computerspielemuseum hätte ich aus Gründen gerne noch einen kurzen, aber dafür extra-ausführlichen Bericht, gern per Mail, das würde mich riesig freuen.

    Was war denn im Room77 nicht moralisch einwandfrei?

    Antworten

  2. DAS ist wirklich lustig. Und das hatte ich ja nicht gedacht. Ich träume ja immer so im Stillen vom Landleben und bin jeden Tag froh, wenn zwischen mir und dem Prenzlauer Berg wenigsten noch Kreuzberg als Pufferzone liegt. Und ihr, die ihr auf dem ilysischen Land lebt, kommt hier her und schaut euch den Prenzlauerberg als Projektionsfläche an. Wer hätte das gedacht? Das Gras ist halt immer dort grüner, wo man gerade selber nicht rasenmähen muss … oder so …

    Antworten

    1. Ja, es grünt woanders immer ein wenig verlockender. Ich weiß nicht, ob uns das antreibt oder ablenkt, dieses ewige Abgleichen mit links und rechts.
      Prenzlauer Berg jedenfalls nimmt unsere Projektionen nicht länger auf. Ach, die letzten Tage im Garten hatten auch wieder etwas äußerst versöhnliches.

      Antworten

  3. Ach und: Ich rate ja wirklich nicht oft Leute von Büchern ab. Aber „Die Straße“ … ich wünschte, ich hätte das Buch nicht gelesen. Mir geht es noch heute, drei Jahre später manchmal immer noch fast genauso schlecht, wie vor 3 Jahren, wenn ich mich ungewollt an einzelne Szenen erinnere. Es zerschlägt die Seele mit einem stumpfen Stein.

    Antworten

    1. Ja, das ist ein gewaltiger Text. Der macht was mit Dir. Der strengt an und schmerzt und ich habe ihn häppchenweise mit langen Pausen gelesen.
      Meine frühere Lehrerin hat mir das Buch vor kurzem auf einem Schulfest empfohlen. Sie hat es mit einer Mittelstufenklasse gelesen. Ich finde das richtig gut. Es in einer Gruppe geleitet von einem guten Lehrer zu lesen und darüber sprechen. Das wünsche ich jedem.

      Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.