Im August sein

Die erste Woche war ok: Wir sind in ein Land mit Strand gefahren und haben Pommes gegessen und Städte angeschaut und alle drei Teile von Nachts im Museum. Der Fernseher dort hatte so eine Lichtfunktion, die an den Seiten mit LEDs drangetackert war und je nach Stimmung im Film hat dann die Wand geleuchtet. Das ist mir erst beim zweiten Teil aufgefallen und danach konnte ich nichts anderes mehr sehen. Ich hab immer die bunte Wand angeschaut und überlegt, was wohl gerade im Film passiert. Das erste Buch seit langer Zeit gelesen und es gefiel mir nicht so gut. Aber was es geschafft hat: Lesen is back. Es fühlt sich an wie ein richtig altes Reptil in mir, auf das mal wieder die Sonne scheint. Viel gestrickt. Dann kam eine Maus reingeflitzt und wir haben die Vorräte vom Boden auf den Tisch gestellt und von dort in den Kofferraum und unsere anderen Sachen auch und dann sind wir einfach nach Hause gefahren. Weil, wir hatten genug.

In der zweiten Woche wurde es richtig gut: Die Sechzehnjährige lebte bereits stabil in einer anderen Zeitzone, in der sie bis weit in den Tag schlief oder sich komplett reglos verhielt und ab Mitternacht in die aktive Phase überging, was das Elternsein absolut angenehm machte. Die Zehnjährige war mit vielen jungen Personen am anderen Ende der Stadt im Wald. Dort traf sie auf Schlangen und Zombies und Hängematten. Morgens stieg sie in die Bahn und danach in einen blauen Bus aus dem vorherigen Jahrtausend und kam abends umgekehrt wieder zurück. Der Busfahrer rauchte und motzte und bremste viel. Die Bahnfahrer*innen waren alle ganz normal.
Diese spürbare Abwesenheit von sogenannten Kindern hat für viel Freiraum gesorgt. Und so bin ich morgens früh aufgestanden, habe einen Kaffee getrunken und gedacht:
Was mach ich denn jetzt? Und dann habe ich mein Fahrrad aus dem Keller geholt und den Sattel richtig eingestellt und meine Sachen gepackt und bin zum Einkaufsladen gefahren. Und dort habe ich die Zahlenkombination für das Schloss ausprobiert und irgendwann wusste ich sie wieder und ich konnte mein Fahrrad sogar vorm Laden im Ständer lassen und musste nicht durch die Gänge fahren. Und dann habe ich Sushi in den Korb gelegt und Tiramisu und damit bin ich weiter in den Garten. Ich habe die Liege aus dem Schuppen geholt und mich draufgelegt und einen Podcast gestartet und gestrickt. Der Podcast war sehr gut gemacht und wurde recht medizin-linguistisch und so habe ich ihn direkt meinen zwei liebsten Konversationsanalytikerinnen empfohlen. Im Garten ist es ganz ruhig, man hört nur die Bäume und die Vögel und Insekten. Manchmal laufen zwei Personen hinter unserer Hecke entlang, aber die sehen mich nicht. Sie gehen dann in ihren Garten und kurze Zeit später riecht es nach Gras und die Laune wird noch ein wenig besser. Ich höre den Podcast weiter und dabei esse ich super langsam das Sushi, was im Garten absolut kein Problem ist. Normalerweise fresse ich wie ein Schwein, da müssen wir ehrlich sein, aber im Garten nicht, da hab ich Zeit und ich habe Muße und ich habe Kultur. Nach dem Tiramisu habe ich außerdem leicht einen sitzen, was absolut selten vorkommt und die Minze um mich herum duftet ganz fantastisch. Ich stelle den Podcast aus und lese das neue Buch. Es ist eine Übersetzung aus dem Französischen und das mag ich grundsätzlich eigentlich immer gern. Es ist heiß und ich schiebe meine Liege immer weiter in den Schatten, immer näher zur Hecke. Ich schaue in den Himmel und irgendwann fällt mir ein, dass ein Garten ja auch Pflege braucht. Ich entscheide mich für die beste aller Gartenarbeiten: Mit einer Rosenschere Dinge abschneiden. Ich schneide den Wein, der über unseren Zaun hängt, die Rosen, die Brombeeren, die Minze. Alles, was irgendwie eine sinnvolle, menschengemachte Anlage nicht respektiert, wird mit einer einzigen Bewegung beseitigt und kommt auf einen Haufen. Es ist wunderbar und dauert nur wenige Minuten. Danach haben wir unseren Steingrill, den Weg und den Zaun wieder. Ich bin fertig mit dem Garten, setze mich auf mein Fahrrad und fahre nach Hause zu Monsieur LeGimpsi. Wie gut, dass er da ist. Es ist später Nachmittag, die Sechzehnjährige frühstückt gerade, die Zehnjährige kommt bald aus dem Wald, aus dem blauen Bus, aus der Bahn zurück.
In der Woche sehen alle meine Tage so aus. Die zweite Woche war die schönste Woche.

In der dritten Woche waren die Kinder weiterhin tagsüber ausgeknockt bzw. unterwegs und das Wetter aber schlechter. Außerdem hatte ich eine wichtige Aufgabe: einen Text Korrektur lesen. Meine Schwester hat eine Dissertation geschrieben und wie stolz mich das macht, ist eine whole different story. Jedenfalls darf ich ein wenig mitlesen und schauen, wo muss ein Komma hin. Ich habe die letzten Jahre viel mit Lektor*innen und Linguist*innen zusammengearbeitet und ihre Anmerkungen gelesen und gesehen, wie genau sie vorgehen und wie sie Vorschläge machen und Verständnishypothesen beschreiben und wie ernst sie Texte nehmen. Jeder Text braucht Pflege, hat eine von ihnen immer gesagt und das stimmt. Und wie im Garten macht es am meisten Spaß, wenn man einen Text vor sich hat, der nur ganz feine Schnitte braucht, mit einer kleinen Rosenschere. Und so habe ich vormittags immer ein, zwei Stunden die Dissertation meiner Schwester gelesen und dann habe ich gestrickt. Im Moment stricke ich zwei Sachen gleichzeitig, was eigentlich gegen meine Regel ist, aber ich habe eine Sondergenehmigung beantragt und erteilt wegen Sommer: Einen Pullover und einen Pullunder. Nachmittags schaue ich eine Serie, bei der ein Achtjähriger an einem gewöhnlichen Dienstag recht viel erlebt: Erst macht er mit seinem Vater eine Verfolgungsjagd, bei der ein Mensch umkommt, dann versteckt er sich in einer Metalltonne, in der eine Klappeschlange wohnt, die er tötet, dann befreit er mit seinem Vater eine Jugendliche aus einer aktiven Entführungslage, dann entspannt er sich mit seinen Cousins beim Spielen, während seine Tante sich einen Raum weiter in den Kopf schießt, dann ziehen seine frischverwaisten Cousins 30 Minuten später in einen anderen Bundesstaat, dann verbringt er den Nachmittag mit seinem Opa und lernt, wie man ein Lagerfeuer macht, dann fällt er beim Holzsammeln in einen Fluß und ertrinkt fast, dann sitzt er mit seinem Opa zitternd am Feuer und erfährt, dass sie sich nun vermutlich seltener sehen werden. Der nächste Tag beginnt damit, dass er und seine Mutter an einem Schulhofstreit vorbeigehen und seine Mutter dabei die Faust eines Fünfjährigen an den Kopf bekommt und quasi tot umfällt. Ich liebe bislang alles daran und außerdem macht Kevin Costner mit und außerdem spielt das alles ziemlich genau dort, wo die Sechzehnjährige jetzt gerade eigentlich ein Jahr lang wäre und aufgrund der Zeitverschiebung vermutlich ganz von allein zur richtigen Zeit schlafen und zur richtigen Zeit leben würde. Aber wegen WTFAMERIKA der letzten Monate haben wir das lieber abgesagt. Meine Ohren sind kaputt und ich darf erstmal keine Kopfhörer tragen und darum lese ich abends im Bett ein Buch, das die ganze Woche über viele Dinge mit mir gemacht hat.
Die Zehnjährige ist aus dem Wald zurück for good, der Urlaub ist vorbei.