twisted stitches
Und außerdem habe ich vorgestern im Aldi drei Mal meine falsche PIN eingegeben. Seit fünfzehn Jahren oder so habe ich dieselbe PIN und dieselben vier Zahlen und das Eintippen ist reines muscle memory, aber vorgestern im Aldi stand ich vor dem Zahlendings und nach den ersten beiden Ziffern war da so eine interessante Ideenlosigkeit in mir und ich hab eigentlich nur noch geraten. War natürlich falsch und bei der zweiten Runde auch. Die Mitarbeiterin sagte dann zu Beginn der dritten: Letzter Versuch jetzt, und ich hätt auch direkt gehen können eigentlich. Meine Karte war dann sofort gesperrt und ich habs aber trotzdem einfach im Rewe nebenan nochmal probiert. Direkt also nochmal unangenehm. Es war schon spät und die hatten nur noch eine Kasse geöffnet. Ein paar Menschen weiter hinten in der Schlange haben sofort gerufen: Wie viel denn? Aber es war ein Wocheneinkauf und natürlich viel zu viel.
Die Menschen von der Bank haben mir die Karte dann nach dem Einschicken meines Zeigefingers für einen raschen Datenabgleich telefonisch freigegeben und gestern beim Falafelessen habe ich sie vorgehalten und direkt wieder die falsche PIN eingegeben. Was ein ungutes Gefühl auslöste und sich zu einigen anderen unguten Gefühlen in einem inneren überlaufenden Gulli ansammelte. Da ist auch noch die Sache mit der Immatrikulationsbescheinigung von 2004, die ich neuerdings brauche und deren Suche ich seit einigen Wochen schon mit einer größer werdenden Anxiety verdränge. Weil ich sie nicht mehr habe, eigentlich gar keine Unterlagen oder Zeugnisse meines Studiums. Das ergab eine erste Sichtung der naheliegenden Ordner im Flurschrank und auch die immer präsenter werdende Erinnerung an einen kurzen Austausch im Sommer 2015 als wir umzogen und der Mann ausmistete und mich bat einen größeren Haufen bedrucktes Papier zu sichten und ich dachte: Geht leider nicht, wegen kein Bock. Und ich dachte: Wenn da meine Unisachen drin sind, sehen wir uns im Paradies wieder, vorher auf keinen Fall.
Und dann war ich eben erst beim Geldautomaten und habe mit geschlossenen Augen meine PIN eingetippt und alles war richtig und ich habe mir sofort die Zahlen als C-Dur-Töne eingeprägt und jetzt summe ich sie seit zwei Stunden und werde meine PIN nie wieder nicht wissen. Und dann bin ich direkt in den Keller gegangen und habe in vier Kisten geschaut und keine Uniunterlagen gefunden und dann habe ich in die fünfte Kiste geschaut und da waren sie drin: Mein Zeugnis (mit einer drei im Nebenfach wtf) und meine Semesterbescheinigungen und keine Immatrikulationsbescheinigung, aber das wird schon klappen ohne.
Und jetzt gehts mir schon wieder besser und ich weiß, dass ich den ganzen Papierkram für den neuen Job ganz gut ausfüllen und einreichen kann. Der neue Job ist keine Agentur mehr, keine Marketing- und keine Sprachdienstleistungsagentur, sondern gar kein Unternehmen mit gewinnmaximierender Ausrichtung, sondern eine Verwaltung, sondern eine Hochschule. Weil es nämlich komplett beschissen ist, wenn jemand seine Firma verkauft und sie dann an Hände gerät, die alles umstellen, aber in einer richtig unsmarten und planlosen, ich möchte sagen inkompetenten und ignoranten Weise und alles wird anders, aber nichts besser. Und dann gehen die ersten Leute und die zweiten auch und keine Stelle wird nachbesetzt und dann ist man irgendwann nur noch zu dritt und fühlt sich als Kellnerin in nem viel zu vollen Restaurant, aber die Gäste haben alle Sonderwünsche oder nachträgliche Bestellungen oder Stornierungen oder Abstimmungsbedarf am Kartoffelpüree und der Stift schreibt nicht richtig und die Kasse läuft seit dem letzten Serverupdate auch nicht mehr und mit der Küche kann man nur Altgriechisch oder Programmiersprache sprechen und außerdem wird da neuerdings eh nur noch Tütensuppe gekocht. Ich bin traurig und vermisse die alte Firma, denn die Arbeit hat viel Spaß gemacht und die Leute waren toll.
Und dann haben wir heute Morgen mit Lea telefoniert und vorgestern mit Noah und nächste Woche mit Malena und dann nochmal mit Lea. Das sind Leute, die verkaufen ein Jahr im Ausland und wir sind akut interessiert am Erwerb eines Schuljahres in den USA. Denn das große Kind hat ganz frisch entschieden und verkündet, dass es gern ein High School Jahr erleben möchte und zwar im kommenden Schuljahr, im ersten Jahr in der Oberstufe also, und dazu müssen wir genau jetzt nen Zahn zulegen und uns informieren und Fragen stellen und Angebote vergleichen und Zeugnisse übersetzen lassen und Essays schreiben und Bundesstaaten oder Himmelsrichtungen aussuchen und ein Visum beantragen und uns jetzt als allererstes aber mal für eine Organisation entscheiden. Denn so wie es aussieht, sind wir ein bisschen late to the party, aber manchmal weißt du halt Dinge ganz lange nicht und dann plötzlich schon und dabei orientierst du dich nicht unbedingt an timelines von Anbietern von Schuljahren außer Landes. Und ich selbst muss da auch noch ein bisschen reinwachsen in den Gedanken, dass diese Tochter, die schon seit 16 Jahren in meinem Leben ist, bald vielleicht lange nicht hier bei mir sein wird und ganz woanders Dinge macht und Gefühle fühlt und rumlebt, ohne mich halt. Und wenn sie wiederkommt, dann als große, freie Tochter, schon fast auf dem Sprung in wieder eine andere Zeit.
Und mein Neffe ist jetzt ein paar Wochen alt und wenn ich ihn sehe, denke ich, wie viel er noch vor sich hat und seine Eltern auch und wie langsam die Zeit vergeht, wenn man drinsteckt in diesem Pudding mit kleinen Kindern und man sich fragt, wann man wohl mal wieder sowas wie maximale Selbstbestimmung und persönliche Freiheit empfindet. Ich habe ihm einen Pulli gestrickt, von dem ich nicht weiß, ob der Kopf durchpasst. Hab viel gelernt dabei: Ich stricke seit immer linke Maschen falsch, die werden dann zu twisted switches. Das sieht man im oberen Teil des Pullovers und es stört mich sehr, aber nicht so, dass ich alles wieder aufgeribbelt hätte. Das ist neu.
Heute Abend essen wir Bolognese, die sechs Stunden vor sich hingeköchelt haben wird.
Ich bin jetzt vierzig und vierzig ist sehr gut. Be soft and kind but take no shit.