Eine Liebesgeschichte – Der Beginn

Niemals in meinem Leben wollte ich etwas so sehr wie Monsieur LeGimpsi. Dies ist eine Liebesgeschichte. Sie beginnt mit meiner Suche.
Viel habe ich gesucht und lange. Gefragt habe ich mich, wie das denn gehe, zwei Menschen, die sich beide gleichermaßen mögen. Und dann noch zur gleichen Zeit. Ob es das überhaupt gibt. Geprüft habe ich viel und lange. Aber es hat nie gepasst. Entweder ich wollte und wurde nicht gewollt oder ich wollte nicht und wurde gewollt. Kompromisse sind nicht meins. Ich habe eine Reise gemacht. Nach Amerika. Als ich wieder zurück kam, wusste ich, hier bleibe ich nicht. Ich ziehe lieber weg. In den Norden, vielleicht in den hohen. Mein Studium ging zu Ende und ich fing an, in die Städte zu fahren und dort nach Arbeit zu suchen. Ich hatte meine Suche verlagert. Von Menschen auf Städte.
Dann traf ich Monsieur LeGimpsi. Es war mein letzes Semester. Ich bemerkte ihn sehr bald. Das wurde mir klar, weil er für mich vierdimensional war.
Einmal fand ich jemanden gut. Das merkte ich daran, dass ich ihn immer in Zeitlupe und mit indianischen Klängen umgeben sah. Bei einem anderen konnte ich nie hören, wenn er zu mir sprach, sondern beobachtete nur die Lippenbewegungen.
Monsieur LeGimpsi war vierdimensional. Aber ich wusste nicht viel damit anzufangen. Ich zog mich bürogerecht an und fuhr in Städte. Dann sprachen wir das erste Mal miteinander. Wir trafen uns zufällig auf einer Bank und flossen. Hin und her und um uns herum und ich glaube, eigentlich haben wir nichts gesagt. Von da an trafen wir uns häufig. Meistens auf Parties. Ich begann, wieder zu feiern. Ich wusste, Monsieur LeGimpsi: Feiert gut. Überhaupt, er war neu an der Uni, wechselte aus dem Süden, es war unglaublich. Er muss für sehr viele Menschen vierdimensional gewesen sein. Einmal sprachen wir miteinander und ein Mädchen kam zu mir und drückte seine Zigarette an meinen Arm. Sie mochten mich nicht. Wenn ich da war, standen Monsieur LeGimpsi und ich in irgendeiner Ecke und redeten. So etwas ist nicht Feiern im üblichen Sinn. Das war allen klar. Wenn wir redeten, diskutierten wir. Oder wir stritten. Wir fingen sofort an. Es ging um Talente und die Verantwortung für sie. Oder um gesellschaftliches. Bildungs- und Sozialpolitik. So in der Art. Literatur war auch dabei. Es fügte sich ganz automatisch. Wir kreisten umeinander und versuchten, dem anderen niemals Recht zu geben. Weil es auf Parties sehr laut ist, standen wir uns nah. Ziemlich schnell war mir klar, dass ich Monsieur LeGimpsi wollte.

in Fortsetzung

Ein Tag in Berlin

Am Wochenende werden wir bei Dr. Schmotzens Großeltern sein. Die wohnen in der Nähe von Frankfurt. Weil sie beide Geburtstag hatten und weil wir uns gleich für mehrere Nächte einquartieren, bringen wir Geschenke mit. Zum Beispiel die DVD 24h Berlin. Das ist eine 1440minütige Dokumentation des 5. Septembers 2008. 80 Drehteams haben sich unter der Gesamtleitung von Volker Heise damals auf den Weg gemacht und alle Ecken und Enden der Hauptstadt abgelichtet. Alltag wird da in sich verschwurbelt und zu erbaulichen Geschichten gewebt. Paare heiraten, Menschen sterben und werden geboren, Drogenabhängige organisieren Geld, Freunde streiten, Vernissagen werden eröffnet, Immobilien verkauft, Telefonate geführt, Teller gewaschen, Musik gemacht, Fluglinien eingeweiht, Gebete gesprochen, Brote gebacken, Prüfungen bestanden, Kommerz wird bedient und ihm wird abgeschworen, und am Ende des Tages hat ein Kai Diekmann es wieder einmal geschafft, den Aufmacher für den nächsten Tag zu inszenieren. Bislang wurde das Projekt zweimal in Echtzeit im Öffentlich Rechtlichen ausgestrahlt. Sehr zu meinem Vergnügen. Ich bin allerdings gespannt, ob dieses Vergnügen auch als DVD funktioniert, wenn die Zeit nicht mehr so echt ist und die Pausentaste ruft.

schwere Last

Es hat geregnet. Dr. Schmotzen spielt im Sandkasten. Mit dem Eimer geht sie zur Pfütze. Sie braucht Wasser und Sand für die bestmögliche Kuchenteigkonsistenz. Sie schleppt das schwere Ding zurück. u_err, u_err murmelt sie dabei erschöpft. Manchmal erinnert sie mich an einen alten Mann.

Seite 124

Ich lese sehr langsam. Das weiß ich, weil Monsieur LeGimpsi immer schon ein neues Buch kauft, wenn ich bei meinem erst auf Seite 124 bin. Oder wir lesen zusammen einen Zeitungsartikel im Bett und Monsieur LeGimpsi blättert schon weiter und ich stecke noch im ersten Absatz. Wenn ich einen Zeitungsartikel lese, muss ich währenddessen häufig den Namen des Journalisten kontrollieren. Oft sehe ich Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Schreibweise. Das finde ich soziologisch interessant. Bei Büchern lese ich einzelne Abschnitte mehrmals. Weil sie wahr sind. Weil sie komplex sind. Weil so gute Worte sie beschreiben, dass ich nie wieder etwas anderes zu lesen brauche. Manchmal muss ich vorblättern, um Dinge auf der Stelle zu erfahren. Ich finde das nicht problematisch. Ich mag die Idee des mündigen Lesers. Es gibt literarische Verfahren, die vorausdeuten. Wenn der Autor sowas macht, darf ich das auch. Monsieur LeGimspi hält sich strikt an den Spannungsbogen. Er mag keine Vorschau. Wenn wir eine DVD ausleihen, verbietet er mir, das Cover anzuschauen. Es könnte wichtige Informationen zur Handlung enthalten. Das würde meinen naiven Blick enttrüben. Monsieur LeGimpsi gibt sich hin. Das finde ich in mancher Hinsicht großartig. Ich hätte nicht übel Lust, eine Geisterbahn für ihn zu bauen. Eine langsame.

eine Mannschaft

Seit ein paar Monaten spiele ich wieder Volleyball. Die Mannschaft ist neu. Die Spielerinnen sind alle acht oder zehn Jahre jünger als ich. Sie gehen zur Schule. Sie reden viel darüber. Zuerst dachte ich, was soll ich hier, ich bin 26, habe ein Kind und einen Mann, ich muss nicht mal mehr in die Uni. Sie werden mich komisch finden. Sie werden denken, dass ich störe. Ich habe mich gefühlt wie der blöde kleine Bruder, der immer dabei sein will. Bloß als große Schwester. Dann kam die Sommerpause. Die Leute sind in den Urlaub gefahren und das Training fiel aus. In dieser Zeit ist etwas passiert. Autark proaktive gruppendynamische Prozesse. Ich bin ein Teil geworden. So etwas habe ich schon öfter erlebt. Eine Pause verändert Strukturen. Neu wird alt.

Die meisten kann man essen

Ich kann nicht meditieren. Geht überhaupt nicht. Die ganze Zeit sitze ich da und denke: Denkst du noch oder meditierst du schon. Ununterbrochen. Das geht an die Substanz. Ich habe mir eine Substitutionshandlung gesucht, denn vollkommen ohne seelische Balance kommst du ja nicht durch den Alltag. Ich schnippel. Vorzugsweise Gemüse. Das braucht die gleichen Rahmenbedingungen wie der Zen-Buddhismus: Unter Zeitdruck kann ich nicht schnippeln. Als Dr. Schmotzen noch viel kleiner war, ließ sie mich nicht für fünf Minuten aus den Augen. Da konnte ich nur sehr selten in Ruhe schnippeln. Beim Schnippeln öffnet sich mein inneres Fenster. Ich werde ganz leicht, alles schwebt. Im Meditationsbuch steht, ein Mantra helfe, den Geist zu beruhigen. Wenn ich Sellerie schnippel, denke ich oft: Sellerie. Bei Lauch funktioniert das auch. Am liebsten schnippel ich weiche Dinge. Zucchini. Oder Erdbeeren. Dann fließen die Bewegungen am besten. Und mit ihnen die Seele. Zum Ende der Schnippelei entstehen mitunter wunderbare Dinge. Die meisten kann man essen.

was ich will

Gott gab mir Fleiß. Er gab mir Hirnschmalz. Er gab mir die Rechtschreibung. Er gab mir einen Abschluss. Er gab mir Ehrgeiz. Er gab mir Dr. Schmotzen. Warum denn Dr. Schmotzen? Ich will arbeiten. Ich will klotzen. Ich will Überstunden. Ich will Amphetamine. Ich will Geld. Ich will es mir verdienen. So viel, dass alles für Steuern drauf geht. Ich will nach oben. Ich will ein Leben am geistigen Limit. Wie soll ich ein Leben am geistigen Limit führen mit einem knapp zwei Jahre alten Kind? Und dann die Amphetamine? Was soll ich mit denen? Mein Leben mit Dr. Schmotzen ist ausgeglichen und beschaulich, es fühlt sich gut an, es könnte immer so sein. Gib mir noch ein Kind und noch eins und dann, wenn möglich, noch eins. Ich will Gemüse pflanzen und Socken stricken und Kastanienmännchen basteln. Ist nicht bald Weihnachten? Lass mich Christbaumkugeln nähen. Und eine Pute. Ich will schmierige Kinderpatscher von den Fensterscheiben wischen und Milchzähne putzen. Ich will diesen Frieden. Geistiges Limit? Literatur! Philosophie! Die VHS! Beleg einen Abendkurs. Ich will ein Büro. Ich will einen Chef. Ich will die Freiheit meiner Generation ohne ihren Druck.

Septembermäßig

Ganz kalt draußen, mit nem blauen Himmel drüber. Da essen wir auf der Stelle Flammkuchen. Und gehen Kühe gucken. Die dampfen. Und dann ziehen wir die dicksten Socken an. Und holen die Daunendecken raus.