Ein Volksfest

findet statt. Jedes Jahr gibt es dort einen Toten, sagt man.
Monsieur LeGimpsi und ich waren mit Dr. Schmotzen da.
Ich habe triumphiert. Noch nie bin ich so entspannt über den Rummel geschlendert. Meine Rolle als Mutter hat es mir leicht gemacht. Dr. Schmotzen bestaunte die laute Musik und die blinkenden Lichter der Fahrgeschäfte, Monsieur LeGimpsi und ich amüsierten uns über alkoholisierte Menschen und sich verhaspelnde Budenschreier. Wir aßen gebratene Champignons und Hot Dogs und Waffeln. Es hätte ewig dauern können.
Ich habe eine schwierige Beziehung zur Kirmes.
Als ich ein Kind war, bin ich mit meinen Freundinnen losgezogen. Sie liebten Karussels und Schießbuden. Ich hatte Angst vor Höhe, Geschwindigkeit und Krach. Ich traute mich nicht ins Riesenrad, wollte nicht Kettenkarussel fahren, fürchtete mich vor Autoscooter und konnte keine Lose ziehen, weil der Mann mit dem Mikrofon alle Umstehenden informierte, was ich gewann, peinlich. Ich war ein schlechter Kandidat, als Freundin auf dem Rummel. Überall stand ich und wartete auf die anderen, die den Spaß ihres Lebens hatten.
Später dann ging ich nicht mehr tagsüber dorthin, sondern nachts, zum Feiern. Ich war nicht gut im Volksfestfeiern. Ich mochte kein Bier und ernährte mich von zuckerhaltigen Longdrinks. Es war voll, ständig fielen Betrunkene über mich, von der Zeltdecke rann kondensierter Schweiß, DJ Desselhouse gab sein Zweitbestes, anstrengend.
Wie gut, dass ich Dr. Schmotzen habe. Ich gehe einzig zum Essen auf die Kirmes. Und das findet keiner langweilig von mir.

Du, Du!

Dr. Schmotzen malt gern. Vorzugsweise an Wände, auf Kissen oder in Schränke. Einfach alles bekritzelt sie mit Buntstiften, Kugelschreibern oder Kreide. Immer, wenn ich sie dabei erwische, schimpfe ich: Du malst bitte nur auf Papier. Auf Möbel/Kissen/Wände/Badewannen/Bettdecken/Böden wird nicht gemalt!
Sie nickt dann sehr verständnisvoll und macht weiter.
Ich habe meine Fingernägel lackiert. Ganz dicht kam sie an mein Gesicht. Erstaunt und sehr ernsthaft sagte sie: Du, Du! Mal, nein.

Was fast 2jährige Mädchen so brauchen können

frage ich mich (die Lebkuchentürme im Einkaufsladen bringen seit Wochen schon den inneren Weihnachtscountdown in Position). Dr. Schmotzen wird diesen Advent nämlich ihren ersten Kalender bekommen. Selbstgezimmert, -gestrichen und -genäht. Und: gefüllt. Füll mal 24 Säckchen mit Mädchen-Schnickeldi, das nicht zu klein ist, nicht zu groß, nicht zu scharfkantig, nicht zu kompliziert, nicht zu teuer, nicht zu zuckrig und trotzdem Freude bereitet. Eben, kannste mit der Nachdenkerei nicht früh genug anfangen.

Gartenarbeit

und mein Nachbar fährt mit seinem Traktor über die Felder und beschallt uns mit Johnny Cash.

Das Haus meiner Oma

Ich wohne im Haus meiner Oma. Mein Opa hat es gebaut. Es waren die Fünfziger, er stammte aus Thüringen, fand hier die Liebe und brauchte einen Ort für seine Frau und was noch kommen möge. Als die Liebe ging, ging mit ihr mein Opa. Er hatte sie woanders neu entdeckt. Meine Oma blieb. Sie ließ die Traurigkeit mietfrei wohnen und lernte Autofahren.
Wenn ich auf dem Sofa sitze, weiß ich, an dieser Stelle ist Mama geboren. Wenn ich im Büro von Monsieur LeGimpsi stehe, weiß ich, hier sind wirklich gute Pickerts entstanden. Wenn ich in Dr. Schmotzens Zimmer bin, weiß ich, hier stand ihr Bett, hier habe ich bei ihr geschlafen, unter großem Grusel unter dem Kruzifix.
Sie ist krank, meine Oma. Zuerst verließ sie die neueste Erinnerung, dann die ältere. Sie vergaß, zu schlafen, sie vergaß, sich zu waschen, sie vergaß, zu essen, sie vergaß, damit aufzuhören, sie vergaß die Namen ihrer Kinder und deren Gesichter und dann war es nur noch ein kleiner Schritt und sie vergaß auch sich selbst.
Wir haben ein paar Wände eingerissen und die Türen sind neu. Alles ist heller und leichter. Wenn ich im Wohnzimmer bin und stricke, weiß ich, genau hier hat auch sie gesessen und gestrickt und das ist ein wirklich schönes Gefühl.

Where children sleep

2004 begann James Mollison die Zimmer und Schlafstätten von Kindern auf der ganzen Welt zu fotografieren. 50 dieser Porträts stellt er in seinem Bildband Where Children Sleep vor. Dokumentarisch und entlarvend. Spielzeugexplosionen neben Miniaturdesignermöbellandschaften neben abgerissenen Couches neben nichts.


(Süddeutsche Zeitung Magazin Nummer 40, 8. Oktober 2010)

Monsieur LeGimpsi schimpft

Monsieur LeGimpsi ist ein sehr unterschiedlicher Mensch. Zu mir. Wenn er sich etwas vornimmt, macht er eine sorgfältige Planung, Tage zuvor. Niemals käme ihm um vier Uhr nachmittags in den Sinn, den Rasen zu mähen. Impromptu. So etwas legt er sich zurecht und fügt es in einen Zeitplan ein, den er in Gedanken stets bei sich trägt. Er sagt dann: Am Samstag gegen elf werde ich den Rasen mähen. Und dann macht er das auch. Jeden Morgen fragt er mich Was hast Du für den Tag geplant? Ich gebe dann schnell eine relativ vage Antwort Ich werde heute mein Buch lesen. So fällt nicht sofort auf, dass ich keine Pläne mache. Ich bin anders. Ich sage zu Dr. Schmotzen Lass uns in den Garten gehen. Und dann fange ich an, Staub zu saugen. Natürlich werde ich mit Charlotte in den Garten gehen, nur ist mir eben kurz etwas dazwischen gekommen. Das treibt Monsieur LeGimpsi in den Wahnsinn und sorgt bei ihm für eine Grundnervösität. Er sagt Du solltest Dr. Schmotzen nicht mit widersprüchlichen Informationen speisen. Ich finde, das tue ich nicht. Dr. Schmotzen kann sich darauf vorbereiten, in einem Zeitfenster, das die nächsten zehn bis sechzig Minuten umfasst, mit mir in den Garten zu gehen. Das muss solch ein kleiner Kinderkopf erstmal verarbeiten. Womöglich bildet sie auch noch Vorfreude, das ist doch etwas Gutes.