Am Bahnsteig

Heute um 07.15 Uhr auf dem Bahnsteig die Durchsage empfangen, dass unser Zug um 07.27 Uhr ersatzlos ausfällt und Reisende die nächste Verbindung um 07.59 Uhr nehmen mögen. Und weil wir Reisende sind, saßen wir dann bei minus drei Grad auf der Bank und warteten.
Letzte Woche waren wir in derselben Situation bei minus sechs Grad und das Kind fand alles völlig inakzeptabel. Es brüllte und bäumte sich auf in der Karre und weil es eine tiefe Abneigung gegen Handschuhe hat, schrie es immerzu aua, aua und alle anzugtragenden Leute, die mit uns auf den gottverdammten Zug warteten, denn nur diese Art von Mensch fährt vor acht Uhr Regionalexpress, verliehen mir im Stillen die Ehrennadel sozialer Schande als schlechteste Mutter und überhaupt, was soll dieser Lärm. Und so dachte ich, wenn ich hier nun schon die Persona non grata bin, kann ich auch das einzig zuverlässige Mittel sämtlicher Eltern dieser Welt anwenden, nämlich Bild und Ton kombinieren und so holte ich das Handy raus und zeigte dem ausrastenden Kind Videos von sich selbst. Und wie zu erwarten besserte sich die Lage schlagartig und schon bei der vierten Wiederholung des Blockbusters, wie ich der Tochter mal die Mütze ins Gesicht zog, lachte das Kind begeistert über sein komisches Talent, war völlig fasziniert von der eigenen Leinwandpräsenz und wollte unbedingt ein Selfie machen und dann kam auch schon der Zug.
Irgendwo zwischen minus sechs und minus drei Grad liegt die Toleranzgrenze, was Kälteempfinden in den frühen Morgenstunden im öffentlichen Raum angeht. Denn heute war die Tochter völlig entspannt. Sie schob ihre Hände unter die Oberschenkel und schlug vor, ein Buch zu lesen. So lasen wir von Tomte und dem Fuchs und wie sie sich Grütze teilten und keine Hühner gefressen wurden. Und weil der Grützehaufen so illustriert war wie Milchreis, kam das Kind auf die Idee, dass jetzt doch eine gute Gelegenheit für ein Frühstück sei. Und da aß es ein halbes Käsebrot aus seiner Frühstücksdose und ein halbes aus meiner und trank mein Wasser und zwar so, dass ich die Reste im Büro wegkippte, weil dort überall kleine Brotklumpen umherpaddelten und ich zur Sicherheit noch ein paar Mal nachspülte. Und dann schauten wir uns noch ein wenig die Tauben an und alles war friedlich und schön. Und auch wenn ich mich immer über außerplanmäßige Qualitätszeit mit der einen oder der anderen Tochter freue, so dachte ich doch, dass ich die Dreiviertelstunde Warterei auch einfach schlafend hätte verbringen können, wenn es halt irgendeine Art von Technologie, was für ein unlösbares Hexenwerk könnte das wohl sein, gäbe, die einen frühzeitig informiert, wenn der Zug ausfällt. Und dieser sinnlos verschenkte Schlaf hat mich ein paar Minuten lang sehr traurig gemacht.

Dr. Schmotzen wurde heute auf dem Schulhof umfassend zu Harry Potter Band sechs und sieben gespoilert. Von einem Erstklässler, was die Sache noch schlimmer macht. Sie weiß jetzt alles und Monsieur LeGimpsi, der sie beim Lesen von Band sechs eigentlich psychologisch betreuen und auffangen wollte (davon sprach er seit wir damals erfahren haben, dass wir ein Kind bekommen werden, denn dass er live dabei sein werde, wenn dieses Kind dann irgendwann mal alphabetisiert wäre und mit beeindruckbaren, frischen Kinderaugen Harry Potter lesen würde, hat ihn mit am meisten gerührt), weil ja nunmal Dumbledore stirbt, und das ist der mächtigste Zauberer weltweit, ist entsetzt und sprachlos und sicherlich ebenfalls sehr traurig.

Und die Tatsache, dass uns die verpasste Aussicht auf eine zusätzliche knappe Stunde Schlaf und das durchgestochene Ende eines bedeutenden Kinderbuches der Gegenwart uns so anfassen, zeigt doch, dass es uns dann doch eigentlich ziemlich gut geht.

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