Freundebücher im Kindergarten

Der Kindergarten hat begonnen und Dr. Schmotzen karrt wieder Freundschaftsbücher an. Kann es etwas bekloppteres, sinnentbehrenderes geben, als alexische Vierjährige, die untereinander in geborgter Schriftlichkeit lebenspraxisferne Informationen austauschen?
Diese Bücher sind voll von in elterlicher Handschrift festgehaltenen Eigenschaftsbeschreibungen, bei denen an jeden Buchstaben drangetackert ist, dass die letzte Deutungshoheit der Antworten in der schreibenden Hand und dem angekoppelten Zentrum für überhöhten Erziehungsstolz liegt.
Und wie sollte das auch anders sein, bei abgefragten Selbstauskünften wie »mein Vorbild ist«, »das ist mein größter Traum« oder »das wünsch ich Dir«?
Dr. Schmotzens Hirn besitzt noch kein Abstraktionsvermögen, um Bedürfnisse soweit zu differenzieren und hierarchisieren, dass sie am Ende ihr ultimatives Glücksversprechen formulieren kann. Und außerdem, Träume? Waren das nicht kleine Kopffilme in der Nacht?
Ich frag mich, wie das bei den anderen Kindergartenkindern ist. Wie sie darauf kommen, »über die Golden Gate Bridge zu gehen“ als größten Traum anzugeben. Oder dem Freundebuchbesitzer »viel Erfolg im Leben« zu wünschen. Sowas denkt doch kein kleiner Mensch. Auf der Umschlagseite müsste statt »Alle meine Kindergartenfreunde«, »Was die Eltern meiner Kindergartenfreunde über ihre Kinder schreiben« stehen.
Und die Freundschaftsbucheigentümer? Was machen die mit den Datensätzen? Lassen sie die sich täglich vorlesen? Lassen sie die sich überhaupt vorlesen? Haben archivierte Informationen über Lieblingsspeisen ihrer Mitspieler irgendeine Relevanz? In einem Alter, in dem die Ordnung der Dinge noch lose und das Leben eine Sammlung von Episoden ist?
Diese Bücher, die alle unsichtbar »Was die Eltern meiner Kindergartenfreunde über ihre Kinder schreiben, damit meine Eltern das Gefühl haben, uns Kindern eine freundschaftsvestärkenden Maßnahme zu schenken« im Titel tragen, sind Schrott. Sie sind industrieller Ausdruck einer ökonomischen Erschließung immer jüngerer Kaufkräfte. Sie sind Wohlstandsmüll. Lassen wir sie am Regalrand liegen.

6 Replies to “Freundebücher im Kindergarten”

  1. Der Inhalt ist latürnich skuril und ich stimme Dir rückhaltlos bei. Aber die Form ist brillant! Herrlich geschriebener Artikel. Von einer so formulierten Tageszeitung könnte ich glatt Abonnent werden. Wollste nicht ne Tageszeitung aufmachen?

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    1. Uh, danke ben_, Du siehst mich erröten.
      Das wäre eine merkwürdige Zeitung. Sie erschiene einmal in zwei Jahren, beherbergte zwei bis drei rein subjektive Artikel über Randthemen eines Lebens mit Kind und wäre bei einer Auflage von unter 10 Exemplaren nicht anzeigenfinanziert. Klingt gar nicht so schlecht, Du hast mich überzeugt.
      Hätte noch Platz für wahrlich journalistischen Inhalt, vielleicht könntest Du mit einsteigen?

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    2. Na! Ich würde ja gerne tägliche Nachrichten in dem Stil lesen. Oder doch zumindest wissen, wie sich das wohl lesen würde, wenn man täglich Nachrichten so bekäme. Das wäre schon ziemlich lustig.

      Aber jetzt, wo Du mich aufforderst auch mitzumachen: Haben wir das nicht letztes oder sogar vorletztes Jahr schon mal andersherum diskutiert? Wollte ich nicht mal gedruckte Ausgaben von „anmut und demut“ machen? War das nicht Deine Idee? Götter! Ich arbeite zuviel!

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      1. Ja, das hast Du recht, zuviel Arbeit ist nicht zuträglich. Fünfundzwanzig Stunden in der Woche reichen vollkommen. Da hast Du dann auch noch genug Zeit für Sonneneinstrahlung. Für mehr reicht dann allerdings auch nicht das Geld, aber das ist eine Sache der Prioritätensetzung.

        Als Abonnentin der ersten Stunde warte ich immer noch auf die Lieferung der ersten Ausgabe. Mach mal!

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  2. Auch meinem Patenkind wurde bereits, gerade 3 geworden und erst seit 2 Wochen in der Kita, ein solches Buch zum Ausfüllen mitgegeben. Was ist da los? Auf die Frage, was er werden wolle, sagte er „Baumhaus“. Ich bin dafür, genau solche Antworten in diese Bücher zu schreiben. Wenn überhaupt. Gruselig, dass die Facebookisierung jetzt schon im Kleinkindalter anfängt…aber: Danke für den schönen Post. Lese immer gern – wenn auch still – hier.

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    1. Hej Effie, ich danke Dir!
      Ja, ich weiß auch nicht, was da los ist. Die Verantwortung liegt bei den Kaufentscheidungsträgern. Wie bei so vielen Produkten für Kinder sollten sie sich bewusst machen, wo der Nutzwert für die Beschenkten liegt und wie es das Spielen gestaltet.
      Als ich in der Grundschule war, hatte ich selbst ein Freundebuch und habe es sehr gemocht. Ich habe darin wirklich oft geblättert und mich auf die Rückgabemomente gefreut, wenn jemand neues reingeschrieben hat. Aber da war ich halt schon im Besitz der Schriftlichkeit und hatte Konzepte für mich geordnet. Solange ich das beim Kind nicht beobachte, entscheide ich mich gegen diese Kindergarten-Freundebücher.
      Und Deinen Vorschlag pro Nonsensantworten finde ich super! Übernehm ich sofort und aufs drastischste.

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