Auftritt der Stowis

Als Anfang der Neunziger das letzte Mitglied meiner Familie geboren wurde, habe ich das Fernsehen kennengelernt. Meine Mutter lag mit einem Baby im Krankenhaus rum, mein Vater hielt meinen Bruder und mich mit versalzenen Backofenpommes, Vollbädern und Fußballspielen über Wasser. Und mit Fernsehen. Die ausschweifende Zeit der Verlotterung dauerte drei Tage, dann kehrte die ökologisch interessierte, konsumkritische und wassersparende Grande Dame des Haushalts zurück. Diese zweiundsiebzig Stunden reichten, um mich mit dem Sendeplatz von Hallo Spencer, Nils Holgersson und Biene Maja vertraut zu machen. Ich wusste plötzlich, jeden Wochentag gegen vierzehn Uhr verspricht sich das Zweite Deutsche Fernsehen Kindern. Und genau dort lag fortan die televisionäre Demarkationslinie, die meine säuglingsbeanspruchte Mutter uns nun immer häufiger zusprach.
Ein durch Gewohnheit erworbenes Herrschaftsgebiet hat Dr. Schmotzen für sich in der Zeit nach Weihnachten definiert und versucht es seither zu erschließen. Gekämpft wird um zuckerhaltige Nahrungsmittel. Es dauerte fast zwei Wochen, bis ihr Weihnachtsteller leergegessen war, jeden Tag durfte sie sich ein Stück nehmen. Diese Regelmäßigkeit hat zu einem Lernprozess geführt und zu psychischer Abhängigkeit. »aber ich hab heute noch dar nichts süßes dedessen! ich will was süßes!«, ist der häufigste Satz im neuen Jahr, entrüstet und fordernd. Und für genau diese Situation habe ich im Sommer Zweitausendacht, als das Kind noch namenlos in meinem Bauch schwamm, ein Buch gekauft.

Heute Abend führten wir ein langes Gespräch darüber, weshalb Dinge gekaut werden, wozu man Spucke braucht, wie sie im Bauch landen und dort emsige Arbeiter die guten Teilchen aus ihnen herausziehen und über die Blutschläuche in den ganzen Körper schicken, um dort Mückenstiche zu reparieren, Knochen wachsen lassen oder den Kopf zum Lernen bringen, der ganze ausgeschlachtete Rest landet im Klo. Ich musste feststellen, dass das Kind bislang anscheinend dachte, einverleibte Nahrung falle vom Mund direkt in die Füße, wo es sich dann hochstapelt, bis man irgendwann großgewachsen ist.
Nun bestehen Möhren und Brot aus einem weitaus größeren Anteil an guten Teilchen als Schokolade und Kuchen und schlimmerweise auch Bratwurst. Darum ist es wichtig, mehr von ersteren zu essen. Das hat das Kind sofort eingesehen und verabredete sich, gleich morgen im Kindergarten ihren Apfel dabei zu beobachten, wie er durch die Adern wandert. Zur Festigung des neuen Wissens lasen wir abschließend mehrmals das Buch. Dort erledigen die Stoffwechselwichtel, die Stowis, das Nährstoffmanagement im Körper und verschönern und vergrößern das Haus, in dem sie alle in einer großen Kommune leben, mit den guten Teilchen der Nahrung. Weil das Mädchen, das die Stowis mit Nahrungsmitteln versorgt, aber unter einer Sozialphobie leidet, und diese mit miesem Zuckerwerk kompensiert, lässt sie ihre Stowis an klebrigem, unbrauchbarem Material fast zugrunde gehen. Die hedonistischen Stowis bekommen schlechte Laune und ihr Haus verfällt. Dr. Schmotzen ist von dieser Monokausalität nachhaltig beeindruckt, wenns gut läuft für die nächsten vierzehn Jahre.
Bin noch auf der Suche nach pädagogischen Büchern zu farblich fragwürdigem Kleidergeschmack und allgemeiner Abhängigkeit von Strumpfhosen, freue mich über Hinweise.

2 Replies to “Auftritt der Stowis”

  1. gerade las ich die Überschrift deines Blogeintrags und dachte mir „Stowis? Kennst du doch irgendwoher!“ Danach folgte ein Glücksgefühl, wie man es verspürt, wenn man sich an etwas aus seiner Kindheit erinnert, das einem im Alltag nie so begegnet, aber irgendwo im Hinterkopf schlummert. Grad am Telefon meinte meine Mutter jedoch, das Buch hätte mich damals nicht sehr beeindruckt. Ich drück dir die Daumen, dass es dir mit Dr.Schmotzen weiterhin anders geht. Und möchte mal an der Stelle erwähnen, dass ich deinen Blog unheimlich gerne lese und ein absoluter Dr.Schmotzen-Fan bin 😉

    Liebe Grüße
    Liz

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    1. Oha, vielen Dank!
      Dieses Gefühl kenn ich auch gut, ich freue mich jedes Mal darüber, wenn es plötzlich auftaucht. Zuletzt hatte ich es, als ich mein altes Aufkleberalbum fand.

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