Mein grölendes Ich

Gestern hat die aktuelle Volleyballsaison begonnen.
Wir sind für unser erstes Auswärtsspiel weit aufs Land hinausgefahren. Ein Teil der gegnerischen Mannschaft kam schützen-, trachten- und messdieneruniformiert in die niedrigdeckige Grundschulsporthalle aus den sechziger Jahren.
Draußen schien die schönste Herbstsonne und ich verbrachte zwischen dreizehn und achtzehn Uhr meinen Samstag in einem fensterlosen, asbestverdächtigen Raum. Es war gut.
Der Trainer schenkte mir maximalviele Spielanteile. Aufgrund meiner giraffenartig unflexiblen unteren Körperhälfte und der folgerichtig erwartungsgemäß schlechten Ballannahme- und -abwehrfähigkeiten, bekam ich die Libera, also die Ballannahme- und -abwehrspezialistin zur Seite gestellt. Immer wenn ich turnusartig die drei Angriff- und Blockpositionen verließ und mich den Ballannahme- und -abwehrpunkten näherte, kehrte ich dem Spielfeld den Rücken zu und gab der Libera Raum, zu schalten und zu walten. Da stand ich also jenseits der Seitenlinie und beobachtete. Und immer, wenn ich das tue, passiert etwas lustiges. Ich weiß das noch vom letzten Jahr, als ich fast ausschließlich am Spielfeldrand stand und beobachtete.
Ich werde dann vollkommen und restlos zu einem ziemlich durchschnittlichen, gar nicht mal so sympathischen Proleten. Sowas kenne ich gar nicht von mir. So rumzugrölen und mit den Händen in der Luft zu wedeln und sogar gegnerische Fehhleistungen zu bejubeln. Total unzivilisiert und barbarisch. Das machen zwar alle, das gehört irgendwie zum Wettkampfsport (außer Tennis, dort ist jeder wahnsinnig verklemmt und blasiert) dazu, aber trotzdem versetzt es mein selbstregulierendes Kontroll-Ich immer in hektische Nervosität und Notstand, wenn es so völlig machtlos dem Proleten-Ich ausgeliefert ist. Weder bei Konzerten, noch bei Partys noch in anderen massenhysterischen Kontexten wie einem katholischen Gottesdienst gehe ich so aus mir raus und gebe mich vollkommen der Situation hin. Aber ich lasse mir das. Macht nämlich Spaß und wirkt absolut kathartisch. Wann sonst hat man schon die Gelegenheit, völlig sanktionsfrei wie eine Irre durch eine Sporthalle zu brüllen bis die Grenzen der Stimmbänder erreicht sind?

Im schwarzen Loch

Auf meinem noch nichts böses ahnenden Weg zur absoluten Schwarzheit, als die Hoffnung noch nicht ganz den Raum verlassen hatte, dass die nächsten vier Jahre sozial gerechter werden, Bildung freier wird und Familien unterschiedliche Formen haben können, Überwachung gebremst, dass ökologisches Bewusstsein gefördert wird und Heterogenität willkommen ist, dass der Staat sich weniger um Verteidigung und mehr um Banken kümmert:

Als ich das Kind mittags vom Übernachtungsbesuch bei der Oma abholte, erzählte es von der Sendung mit der Maus, in der es heute anscheinend sehr anschaulich um die Bundestagswahl ging. So fragte es direkt auf meinen Hinweis, dass ich bereits Kreuze gemacht habe, politisch eloquent und top interessiert nach: »Und, wen hast Du gewählt? Die Maus oder Hein Blöd?«

die kommen da alle wieder raus

Ich habe den ultimativen Beweis*, dass vom Staubsauger verschluckte Spinnen überleben. Große resignativ gefärbte Verzweiflung. Einzige Lösung, Kündigung des Mietvertrags, Landflucht.

* Nachdem ich zwischenzeitlich überlegte, die Raptorentiere mit Resten des gelben Küchenlacks zu besprengseln und so wiedererkennbar zu machen, bevor sie den Weg in den Staubsauger nehmen, lief mir letzte Woche eine siebenbeinige Dings über den Weg. Habe seither tausend Pakte mit dem Phobienuniversum geschlossen, mir keine siebengliedrige Bums zu schicken und mich meiner einzigen Vernichtungswaffe zu berauben und eben dann zack und zwoviersechsachtsieben und aus.

Kinderbücher, gute und ungute

Das Kind erhält außerhalb des Geburtstags- und Weihnachtsturnus so gut wie nie Spielzeuggeschenke. Aber was es uneingeschränkt häufig bekommt, sind Bücher. Bücher haben für mich keinen Geschenkstatus im eigentlichen Sinn und sind damit nicht mit Exklusivitätsmarker versehen, sondern Lebensmittel. Also Mittel zum Leben. Gedankenvergrößerer, Weltenentdecker, Abgleichsangebote, Wachstumstreiber, Versunkenheitslotsen. Bücher sind das beste, was es gibt. Ein Mensch mit einem Buch ist nicht einsam. Also, ich mag Bücher.
Und das Kind eindeutig auch und darum hat es Zugang zu vielen.
Wenn ich mein nun fast fünfjähriges kinderliteraturorientiertes Mutterleben so anschaue, fällt auf, dass es einige Bücher gibt, die ich sehr, sehr gern und gut vorlese und einige, die ich äußerst ungern und unlustig vorlese. Und das hängt weniger mit Handlung und Figuren als mit der Sprache zusammen.
Es gibt eigentlich genau zwei auf den ersten Blick oberflächliche Kriterien, die für mich entscheidend sind, wie gut, und damit wie literarisch, ein Kinderbuch ist: wie viele Adverbien und Adjektive ein Text hat und wie semantisch aufgeladen die Verben, besonders diejenigen, die Sprechakte ankündigen, sind. Je schlichter die Sprache, desto mehr Literarizität lautet meine einfache Formel, die sich bislang bei jedem Buch bestätigt hat. Es macht nämlich einen Unterschied, ob es heißt »…, triumphierte der kleine Rabe frech« oder einfach »…, sagte der kleine Rabe«. Der Inhalt, also in diesem Fall das Gesagte sollte auf sprachlicher Ebene stark und sorgfältig genug gestaltet sein, dem Leser zu vermitteln, dass es eben frech war. Der Leser erschließt sich den Text auf diese Weise selbst und bekommt ihn nicht vom Erzähler erklärt. Texte, die sich selbst erklären, sind immer schwächer und mit weniger Deutungsspielräumen versehen, als Texte, die erzählen und den Leser ermutigen, aktiv zu werden und Informationen sinnstiftend zu verknüpfen. Und Adverbien und Synonyme für »sagen« beschlagnahmen in Kinderbüchern, in denen per se alles schon reduziert und wenig komplex gehalten ist, eben eine große Freifläche an Eigendenkleistung und Vorstellungsvermögen.
Dass man beim aktiven Lesen auch mal scheitert, ist gut. Ich mag scheitern als Konzept eh. Scheitern hilft, denn scheitern ist ein einwandfreier Lernmotor. Kinder können also durchaus mal eine Weile leicht überfordert von einem Text sein, irritiert, sie können sich ruhig nach ihm strecken. Irgendwann haben sie ihn erreicht und füllen ihn mit ihrer eigenen Deutungsdichte aus und nebenbei sind Verknüpfungen und neue Denkwege in ihren Köpfen entstanden.
Meiner Meinung nach schaffen das am besten die Klassiker: Pettersson und Findus, Willi Wiberg, Janosch, Bücher des Aufbauverlags und von Betz und Gellberg.
Unser persönliches nächstes großes Ding wird Narratologie sein. Die stand bei den Kinderbüchern offensichtlich nicht an erster Stelle. Bislang waren Bilder und Illustrationen wichtig, die dem Kind eine Verständnishilfe gaben und die Handlung unterstützten. Textblöcke sind zudem kürzer, wenn auf der Seite noch ein großformatiges Bild platziert ist. Nun befinden wir uns seit einiger Zeit an der Schnittstelle zu Lesebüchern. Da sind dann schonmal illustrationsfreie Doppelseiten dabei, bei denen das Kind einfach nur lauscht und nicht schaut. Die Geschichten werden komplexer, Handlungen, Charaktere, Schauplätze rücken in den Vordergrund. Da werde ich meine zwei sprachorientierten Regeln erweitern müssen, um das gute Zeug vom unguten zu unterscheiden.
Ich merke in diesem Zusammenhang im Moment, wie unfassbar gut Astrid Lindgren ist. Unbesiegbar. Sie hat eine Million verschiedene Settings erfunden und jeden einzelnen Kosmos trägt eine eigene Stimmung, die ihn unverwechselbar macht. Je nachdem wie nah die Übersetzungen am Original sind, lese ich mit steter Freude die Texte einer großartigen, eleganten Handwerkerin vor. Auch in Sachen Sprachrhythmus und Satzstruktur lässt sich die Lindgren sehr angenehm vortragen.
Ach, Dr. Schmotzen hats gut. Noch eine ganze Kindheit voller Geschichten vor sich. Eine Fünfjährige müsste man sein.

»Heute als Du weg warst, haben Papa und ich Uno gespielt. Drei Mal! Papa hat zweimal gewonnen und ich viermal und einmal war unentschieden.«

Freundebücher im Kindergarten

Der Kindergarten hat begonnen und Dr. Schmotzen karrt wieder Freundschaftsbücher an. Kann es etwas bekloppteres, sinnentbehrenderes geben, als alexische Vierjährige, die untereinander in geborgter Schriftlichkeit lebenspraxisferne Informationen austauschen?
Diese Bücher sind voll von in elterlicher Handschrift festgehaltenen Eigenschaftsbeschreibungen, bei denen an jeden Buchstaben drangetackert ist, dass die letzte Deutungshoheit der Antworten in der schreibenden Hand und dem angekoppelten Zentrum für überhöhten Erziehungsstolz liegt.
Und wie sollte das auch anders sein, bei abgefragten Selbstauskünften wie »mein Vorbild ist«, »das ist mein größter Traum« oder »das wünsch ich Dir«?
Dr. Schmotzens Hirn besitzt noch kein Abstraktionsvermögen, um Bedürfnisse soweit zu differenzieren und hierarchisieren, dass sie am Ende ihr ultimatives Glücksversprechen formulieren kann. Und außerdem, Träume? Waren das nicht kleine Kopffilme in der Nacht?
Ich frag mich, wie das bei den anderen Kindergartenkindern ist. Wie sie darauf kommen, »über die Golden Gate Bridge zu gehen“ als größten Traum anzugeben. Oder dem Freundebuchbesitzer »viel Erfolg im Leben« zu wünschen. Sowas denkt doch kein kleiner Mensch. Auf der Umschlagseite müsste statt »Alle meine Kindergartenfreunde«, »Was die Eltern meiner Kindergartenfreunde über ihre Kinder schreiben« stehen.
Und die Freundschaftsbucheigentümer? Was machen die mit den Datensätzen? Lassen sie die sich täglich vorlesen? Lassen sie die sich überhaupt vorlesen? Haben archivierte Informationen über Lieblingsspeisen ihrer Mitspieler irgendeine Relevanz? In einem Alter, in dem die Ordnung der Dinge noch lose und das Leben eine Sammlung von Episoden ist?
Diese Bücher, die alle unsichtbar »Was die Eltern meiner Kindergartenfreunde über ihre Kinder schreiben, damit meine Eltern das Gefühl haben, uns Kindern eine freundschaftsvestärkenden Maßnahme zu schenken« im Titel tragen, sind Schrott. Sie sind industrieller Ausdruck einer ökonomischen Erschließung immer jüngerer Kaufkräfte. Sie sind Wohlstandsmüll. Lassen wir sie am Regalrand liegen.