Wie ich mich zwangsexmatrikulierte

Der Briefumschlag blieb acht Tage im Postkasten. Als neben Werbeflyern und Gratiskatalogen keine Urlaubskarte mehr hineinpasste, legte ich ihn auf meinen Schreibtisch. Dort brauchte ich den Platz nach vier Tagen für die alten Zeitungen. Ich räumte den verschlossenen Umschlag für einen Monat in mein Sammelbecken aufgeschobener Zustände. Das hat einen Deckel und entzieht seinen Inhalt meiner Wahrnehmung. Ich brach den Brief schließlich auf und mit ihm zahlreiche Brüder und Schwestern im Rahmen einer breit angelegten Öffnungsaktion, deren Ursache die Fahndung einer anderen Information war. Mir fiel eine gefettete Frist ins Auge, sie lag eine Woche zurück. Das Anschreiben trug ich in die Küche und fühlte mich motiviert. Das beiliegende Formular füllte ich auf Anhieb vollständig aus und dachte auch an die Unterschrift. Ich fand keinen neuen Umschlag und legte das Papier ganz vorn an die Ecke des Tisches. Ich vergaß für längere Zeit, Kuverts zu kaufen. Ein Windstoß blies den Zettel durch die Gegend, er landete in Dr. Schmotzens Besitz. Sie malte dasistdashausvonnitolaus in grün, gelb und braun, in groß, klein, schief und rund. Ich bastelte eine papierne Hülle und klebte sie um das Antwortformular. Mit Spucke pappte ich neun Fünfcentmarken in einer langen Reihe auf die Vorderseite. Zwei zu wenig. Ich steckte den Brief in meine Tasche und dachte daran, bald zur Post zu fahren.
Das war Mitte Juli. Vorgestern kam ein neuer Brief von der Uni. Morgen hole ich ihn aus dem Briefkasten.

Freiheit

Ich habe »Freiheit« von Jonathan Franzen gelesen. Mein erstes Buch von ihm und wenn es tatsächlich nur ein halbpotenter Abklatsch seiner »Korrekturen« ist, dann wartet da eine sehr gute Lesezeit auf mich.
»Freiheit« kann am Ende noch so kitschverdächtig versöhnlich daherkommen; die Figuren sind tief und komplex beobachtet, ihre Entwicklung stimmig. Mit gleichermaßen ausgeprägter Veranlagung zu großem Glück und großem Unglück. Es macht Freude, sie fallen zu sehen, sie stürzen aus so größer Höhe und irgendwie prallen sie mit lautem Getöse in sich selbst auf. Mit jeder Neurose, mit jedem Konkurrenzdrängen, mit jeder sozialen Abgrenzung, mit allem Schlechten dieser Mittelschichtsfamilienwelt kann ich mich identifizieren. Das um Kultur-, Bildungs- und Finanzkapital reiche Bürgertum verliert die Kontrolle, es erkrankt an höchst zivilisatorischem Leid.
Und das knallt dann schön rein beim Lesen.

chim chim cheree


Heute im Secondhandeinkaufsladen eine handvoll Hörspielkassetten für Dr. Schmotzen besorgt und auf der Rückfahrt gemerkt, dass Monsieur LeGimpsi jedes Mary-Poppins-Lied textsicher mitsingt.
Wie schön, dass in meinem Mann immer noch ein kleines Mädchen wohnt.

»wo ist opa jetzt?«

»Opa ist doch gestorben.«
»ja aber wo IST er denn?«
»Opa ist nicht mehr da. Der schläft ganz tief und fest. Das hast Du doch gesehen, oder?«
»ja, der schläft danz fest und tief. tommt er morgen wieder?«
»Nein, der kommt nicht mehr wieder.«
»der tommt nicht mehr wieder?«
»Nee.«
»ja aber wo IST er denn? der opa?«
»Na, das weiß ich nicht. Vielleicht ist er ein Vogel geworden.«
»mit flüdeln?«
»Ja. Das wär abgefahren, was?«
»oder vielleicht ist er ein tleiner vodel.«
»Hmm.«
»oder vielleicht ist er eine seerobbe. oder ein pinduin.«
»Klar.«
»oder vielleicht ist er eine tuh. oder vielleicht ist er eine schnette.«
»Kann sein.«
»eine pinte schnette vielleicht.«
»Da hätte er aber Glück gehabt.«
»oder vielleicht ist er eine strumpfhose.«
»Jup, aber das weiß kein Mensch so genau, Dr. Schmotzen.«
»warum ist opa denn verstorben?«
»Opa ist gestorben, weil sein Herz krank geworden ist.«
»das herz?«
»Ja.«
»opaopa ist auch verstorben«
»Das stimmt. Jeder stirbt irgendwann.«
»wer denn?«
»Na alle. Alle Menschen und alle Tiere und alle Pflanzen.«
»frauen auch?«
»Ja.«
»mädchen auch?«
»Ja, manchmal.«
»junds auch?«
»Manchmal auch Jungs.«
»papa auch?«
»Irgendwann auch Papa. Aber das dauert noch voll lange.«
»tutt mal ein fludzeud. vielleicht ist opa ein fludzeud deworden.«

schief und löchrig

Wenn Du Deine Haare schneidest und vor Dir ein Scheiterhaufen Fransen rieselt und Du denkst, jetzt ist ein guter Zeitpunkt die Tätigkeit einzustellen.
Dann höre auf Dich.

Der illustrierte Tag XI


Zehn Farben an zehn Fingern. Dr. Schmotzen lebt im pinken Nagellackparadies. Zielsicher wählt sie alle Rottöne dieser Welt mit und ohne Glitzerfeature und kombiniert mit schwarzem Daumen.


Und wenn die Welt auch untergeht, der Rasen wächst und muss gemäht werden. Zwei Quadratmeter Wiese mit der Hand zu trimmen ist eine schöne Angelegenheit. Interessanterweise achte ich darauf, die Grünfläche mit meinen Füßen nicht zu betreten, so als wäre sie in ihrer Würde unanzutasten oder als stünden überall »Betreten verboten!« Parkschilder herum. Grabgartenarbeit ähnelt bei mir also immer ein wenig Twister.


Langsam wächst Dr. Schmotzens Gadgetsammlung auf dem Stein. Manchmal verschwindet eine Winzigkeit und ein neuer Schatz kommt dazu, manches leiht sie auch nur für die Dauer einer Nacht. Insgesamt immer ein repräsentativer Ausschnitt ihrer aktuellen Klüngelhitliste.


Es ist nunmal einer Deiner liebsten Orte gewesen und uns fünf vertraut seit immer. Ich bin sehr dafür, dass wir ihn uns bewahren aktiv oder nur zum Sonnen und Schauen. Außerdem ist es ein wirklich schönes Gefühl, zu wissen, hier muss ich niemandem erklären, hier bin ich einfach Deine Tochter.


Die Schwester war im holländischen Land und brachte Gaben. Dieser formschöne Feincordschlips wird fortan Monsieur LeGimpsis Hemd aufwerten und das gestrickte, beschleifte Stirnband meine Ohren bei Eis und Sturm wärmen. Hartelijk Dank!


Die erste Hochrechnung gegen achtzehn Uhr bringt zweifaches Vergnügen. Freude und Schadenfreude befruchten sich unablässig und machen mir ein Grinsegesicht. Gut gemacht, Menschen in Berlin.


Heute Pizza mit Münsteraner Tatort. Wie meditativ unsere sonntägliche Wochenendabschlusstradition ist, merke ich, wenn ich an morgen denke. Dann ist Montag und das volle Unglück eines anfänglichen Kindergartenlebens manifestiert sich höchstvermutlich um eine weitere Woche.

Dreizehn more to go

Ich kann nicht gut eine Tablette schlucken. Das zu tun, habe ich mich bislang immer geweigert. Da steckte mir zu viel chemische Schulmedizin drin. Globuli zergehen unter der Zunge. Das ist angenehm und schmeckt nach Zucker. Jetzt bin ich allerdings in einer Situation, in der ich vor lauter chronisch entzündeter Magenschleimhaut überlege, die Morphiumreste meines Großvaters zu spritzen, ich würde sie mir direkt in den Augapfel injizieren, ich würde meine sich zersetzenden Magenwände in ihnen tränken, ich würde einer Amputation meines unsedierten Bauchraumes zustimmen, dass ich einer schulmedizinisch verordneten fünfzehntägigen Tablettentherapie ohne weiteres zugestimmt habe. Ich will das harte Zeug. Ich will das, was wirkt, auch wenn der Mond gerade in einer ungünstigen Phase steckt.
Was ich nicht wusste, ist, diese zweifarbigen Kapseln sind so umfanggroß und ungeschmeidig und sie plustern sich im Speichelkontext auf und schmecken nach frisch geölter Fahrradkette. Sobald sie in meinem Mund liegen, und sie liegen dort lange, möchte ich meinen Homöopathen anrufen und um Vergebung bitten.
Ich kann sie nicht gut schlucken, aber die Sympathie für meine Körpermitte und ein Liter Wasser helfen auf dem Weg nach unten.
Dreizehn more to go.